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Blick über den Gartenzaun
Herr und
Frau Wagner verbringen im Sommer jeden schönen Tag in ihrem Garten. Ihre
Liegestühle stehen immer an
derselben Stelle so dicht nebeneinander, dass sich die Armlehnen berühren. An einem
warmen Augusttag sitzt Herr Wagner jedoch allein draußen.
Frau Vogel,
vom Haus gegenüber, steht auf dem Balkon. Neugierig blickt sie auf den leeren
Stuhl neben Herrn Wagner. Nur zu gern wüsste sie jetzt, warum Frau Wagner nicht
draußen bei ihrem Mann sitzt. Sie kneift die Augen zusammen und versucht
angestrengt, durch die Wohnzimmerfenster der Wagners ins Innere des Hauses zu
blicken. Vielleicht hält sich Frau Wagner ja drinnen auf, denkt sie. Doch so
sehr Frau Vogel sich auch bemüht, die blendende Sonne lässt sie absolut nichts
erkennen. Sie ist so
damit beschäftigt, Detektiv zu spielen, dass sie gar nicht hört, wie ihr Mann
neben sie tritt und sie anspricht. Erschrocken zuckt sie zusammen und umklammert
den Rand des Balkongeländers. „Pass auf,
du fällst noch herunter! Was siehst du denn
schon wieder so gebannt zu den Wagners herüber? Steck doch deine Nase
nicht immer überall rein!“ Beleidigt
zuckt Frau Vogel mit den Schultern. Mit einem verachtenden Augenaufschlag blickt
sie ihren Mann an. „Wieso?
Ich guck ja nur!“ Wieder
wandern ihre Augen hinüber zu Wagners Garten. „Ja, aber
wie! Dir fallen die Augen fast aus dem Kopf!“ Herr Vogel
macht eine verächtliche Handbewegung. Diese Unart kann er seiner Frau nicht
mehr abgewöhnen. Immer muss sie alles als erste erfahren und über die neuesten
Geschehnisse in der Nachbarschaft informiert sein. So ist sie eben, seine Marga.
Er setzt sich auf seinen Gartenstuhl und greift seufzend zur Tageszeitung. „Du, Karl,
komm doch einmal her! Die Frau Wagner ist ja gar nicht da! Wieso ist die nicht
bei ihrem Mann? Komisch! Die Beiden sind doch sonst immer zusammen. Ob etwas
passiert ist?“ Herr Vogel
überfliegt die Überschriften der Titelseite und hört kaum hin. Er hat die Hälfte
der Fragen seiner Frau gar nicht mitbekommen, weil ihn die Nachbarn nicht
interessieren. „Das geht
dich doch überhaupt nichts an, Marga. Lass sie machen, was sie wollen! Kümmere
du dich um deine Angelegenheiten. Im übrigen kann es uns egal sein, ob die
Wagners beide im Liegestuhl sitzen oder nicht. - So, jetzt lass mich endlich in
Ruhe!“ Geräuschvoll
blättert er die Zeitungsseite um. Es ärgert ihn maßlos, solch sinnlose Gespräche
zu führen, aber seine Frau ist nicht davon abzuhalten. Eh’ er es sich
versieht, redet sie schon weiter. „Aber die
beiden verbringen doch jede freie Minute zusammen,“ hakt Frau Vogel nach.
„Das macht mir Sorgen!“ „Aber mir
nicht. Soll der Wagner doch allein im Garten sitzen, wenn es ihm gefällt. Es
geht uns nichts an, nichts, hörst du?“ Frau Vogel
nickt. „Ja, ja!
Du hast natürlich recht! Es geht uns wirklich nichts an!“ „Dann halt
dich auch endlich dran!“ „Aber ich
mach’ mir eben so meine Gedanken. Bisher waren sie täglich zu zweit. Noch
gestern lagen sie nebeneinander in ihren Liegestühlen, haben sich angeregt
unterhalten und des öfteren laut gelacht.“ „Vielleicht
ist sie krank oder besucht eine Freundin,“ murmelt Herr Vogel. Er blickt über
den Zeitungsrand und schüttelt den Kopf. Ihm ist das Gespräch einfach lästig. „Setz dich
hin und genieß das schöne Wetter!“ Aber Frau
Vogel bleibt wie festgewurzelt stehen. Sie lässt sich durch nichts ablenken.
Unverwandt ruht ihr Blick auf dem Nachbargrundstück. „Aber überleg
doch mal – er würde hier nicht so seelenruhig sitzen können, wenn seine Frau
krank wäre- oder?“ „Herrgott
noch mal! Ich weiß es nicht!“ „Er müsste
sich doch um sie kümmern und sie versorgen. Nein – krank ist sie bestimmt
nicht. Und bei einer Freundin? Dann wäre diese Frau ja sicher auch schon einmal
hier gewesen, und wir hätten sie gesehen!“ „Du! Du hättest
sie gesehen,“ unterbricht ihr Mann sie mit einem spöttischen Lächeln. „Mich hat
der Besuch von Wagners noch nie interessiert!“ Unruhig
wischt Frau Vogel mit der rechten Hand über die Balkonbrüstung. „Nein,
nein, es muss einen anderen Grund haben. Ich werde es schon herausfinden.“ Plötzlich
hebt sie den rechten Zeigefinger und lauscht. „Hör mal,
Karl! Das Radio läuft heute nicht!“ „Na
und?“ knurrt er gereizt. „Das hat sicher nichts zu bedeuten. Er wird einfach
vergessen haben, die Geräuschkulisse anzustellen. Ich bin froh, die laute Musik
stört mich beim Lesen.“ „Trotzdem, irgendwie gefällt mir das nicht. Vielleicht
haben sie auch Streit.“ In Gedanken
versunken verlässt Frau Vogel ihren Beobachtungsposten, setzt sich auf ihren
Stuhl und nimmt ein Buch zur Hand. Aber ständig kreisen ihre Gedanken um die
Wagners. Unruhig rutscht sie auf ihrem Sitzplatz hin und her. Dann legt sie das
Buch ungelesen zur Seite und springt wieder auf. Sie stützt beide Ellenbogen
auf die Balkonbrüstung und legt den Kopf in ihre Hände. „Karl?
Schau dir doch mal das Gesicht von Herrn Wagner an.“ „Mensch,
Marga! Langsam reicht es mir aber. Hör endlich auf!“ „Der Mann
ist sonst immer fröhlich, aber heute scheint er unglücklich zu sein. Wie er da
sitzt und in sein Buch stiert! Ich glaube, der versteht gar nicht, was er da
gerade liest. Er ist bestimmt mit seinen Gedanken ganz woanders.“ Geräuschvoll
faltet Herr Vogel seine Zeitung zusammen. „Verflixt!“
faucht er. „ Du übertreibst wieder gewaltig. Ich bin sicher, Herrn Wagner
geht es sehr gut. Ich finde, er macht einen recht zufriedenen Eindruck.“ „Typisch
Mann!“ Entrüstet dreht sie sich zu ihrem Mann um und ist für einen Moment
sprachlos. Doch dann zischt sie zurück. „Glaub mir, als Frau habe ich einen sicheren Blick für so
etwas. Ich sehe es Herrn Wagner an, er fühlt sich nicht wohl!“ Herr Vogel lässt
die Zeitung auf seine Beine sinken. Er hat noch keine drei Zeilen gelesen. Aber
er kennt seine Frau ja nun lange genug. Wenn sie sich etwas in ihren Dickkopf
gesetzt hat, führt sie es bis zum bitteren Ende durch. Und wenn sie etwas in
Erfahrung bringen möchte, forscht sie so lange, bis alles klar ist. Nichts und
niemand kann sie dann bremsen. Sie wird
erst Ruhe geben, wenn sie weiß, was mit Frau Wagner los ist, denkt er
resigniert. Das kann
noch länger dauern. Seine Geduld
ist langsam zu Ende. Zornschnaubend wirft er die Zeitung beiseite. „ Mein
Gott! Das ist nicht dein Ernst! Woher willst du denn wissen, was er denkt und fühlt?
So gut kennst du ihn nun auch wieder nicht!“ Sie lächelt
hämisch und lässt sich nicht beirren. Unermüdlich plappert sie weiter. „Und ob!
Irgendetwas außergewöhnliches muss vorgefallen sein. Mir fällt auf, die
Fenster sind auch alle geschlossen. Seltsam.“ „Wieso
denn seltsam? Oh Gott! Jetzt sag mir bloß, was die geschlossenen Fenster mit
der Abwesenheit von Frau Wagner zu tun haben sollen!“
„Dass du
das nicht weißt, ist mir schon klar. Du kümmerst dich ja immer nur um dich
selbst und nicht um andere.“ „Ja, das
stimmt auffallend. Das solltest du besser auch tun!“ Empört
dreht Frau Vogel sich zu ihrem Mann um. „ Du
solltest mir dankbar dafür sein, dass ich mich so sehr um andere Leute bemühe.
Ich bin eben nicht so egoistisch wie du. Mir geht es erst dann gut, wenn ich weiß,
die Menschen in meiner Umgebung sind zufrieden.“ Herr Vogel
lacht zynisch. „So kann
man natürlich das Wort ‚Neugier’ auch beschreiben. Du hast nicht eher Ruhe,
bis du Frau Wagner gesehen hast. Viel Spaß beim Grübeln. Aber verschone mich
mit deinen Hirngespinsten.“ Frau Vogel
schnaubt wütend. Mit beiden Fäusten schlägt sie auf die Balkonbrüstung. Trotzig fährt
sie fort. „Die
Fenster sind eben meistens gekippt oder sogar ganz weit geöffnet. Und heute?
Weder noch! Und Herr Wagner isst auch überhaupt nichts. Normalerweise essen die
beiden gegen 12.30 Uhr immer eine Kleinigkeit.“ Herr Vogel
verliert endgültig die Geduld und schreit seine Frau an. „Hör
endlich auf zu spekulieren, du gehst mir langsam auf den Wecker. Vermutlich hat
Herr Wagner keinen Appetit! Basta! Und jetzt ist endgültig Schluss! Ende mit
deinem blöden Gequatsche! Ich habe Hunger und möchte sofort etwas essen.“ Die lauten
Worte ihres Mannes zeigen deutliche Wirkung. Frau Vogel verschwindet tatsächlich
in der Küche. Zehn Minuten später bemerkt Herr Vogel Frau Wagner, die mit
einem Tablett in den Händen neben ihrem Mann steht.
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