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Die Brille

 

Mit einem Lächeln legt Klara ihr Buch beiseite und greift nach dem Telefon.

Das ist mit Sicherheit Trudi, denkt sie noch, als sie auch schon die vertraute Stimme ihrer besten Freundin vernimmt.

„Hallo Trudi“, bringt Klara gerade noch heraus. Dann wird ihr von dem Redeschwall der anderen Frau  jedes weitere Wort zunächst abgeschnitten.

„Nun erzähl schon, Klara! Wie sieht sie aus? Für welches Modell hast du dich entschieden? Etwas Modisches? Sag schon!“

Klara räuspert sich, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Sie hatte ihrer Freundin Trudi beiläufig erzählt, dass sie beabsichtige, eine neue Brille zu kaufen, weil ihr die alte nicht mehr gefiel.

Klara schüttelt schmunzelnd den Kopf.

In ihrem Eifer hatte Trudi wohl wieder nur halbherzig hingehört, sonst hätte sie sich einige dieser Fragen bereits selbst beantworten können.

„Hallo Klara? Bist du noch da? Ich höre dich nicht!“

„Ich habe ja noch gar nichts gesagt, Trudi! Du redest doch die ganze Zeit! Ja – die Brille – sieht aus wie jede andere Brille auch. Nichts besonderes.“

„Oh , Klara! Es gibt so viele verschiedene Formen, Größen, Farben! Hast du sie schon getestet?“

„Da gibt es nicht groß etwas zu testen, Trudi. Ich benutze sie so, wie jeder andere Mensch auch. Natürlich habe ich sie schon ausprobiert. Sie sitzt gut und fest, alles ist perfekt gemacht.“

„Na prima! Welche Farbe hast du dir denn ausgesucht? Warst du mutig und hast dich von dem dunklen Gestell getrennt? Das sah immer so streng aus. Passte gar nicht zu dir. "

„Ja, von der schwarzen Brille habe ich mich tatsächlich getrennt. Sie schien auch mir nicht mehr so zeitgemäß. Die gibt es ja schon seit ewigen Zeiten. Ich habe mich für indigoblau entschieden. Es sieht wunderschön aus und passt sich der hellen Umgebung gut an.“

„Der hellen Umgebung? Was meinst du denn damit, Klara? Dein blasses Gesicht? Ich sage ja immer wieder, nimm ein wenig  Make-up, damit deine Haut Farbe bekommt. Es sieht viel schicker aus. Komm einfach bei mir vorbei und führe mir deine neue Errungenschaft gleich vor, ja?“

Klara hält sich die Hand vor den Mund, um nicht laut los zu prusten.

„Trudi! Was soll der Aufwand um eine Brille? Jeder hat sie, jeder braucht sie! Das ist nun wirklich nichts besonderes. Ich komme gern zu dir, aber die Brille ...“

„ Klara, so eine Brille ist sehr wichtig. Stell dir nur vor, du hättest sie nicht! Was würdest du dann anfangen? Das wäre einfach unvorstellbar. Übrigens möchte ich sie auch gern an dir sehen! Ich will wissen, ob sie dir gut steht, ob sie zu deinem Typ passt!“

„Weißt du was, Trudi? Ich schlage vor, du kommst her und probierst sie selber aus. So kannst du sie am ehesten beurteilen.“

„Ich? Ich soll sie .... Aber ich brauche gar keine Brille, bis jetzt nicht ....“

„Warte es ab, Trudi! Ich glaube, diese Brille schadet auch deinen Augen nichts.“

„Na du machst mich jetzt aber wirklich neugierig, Klara! Pass nur gut auf, dass du dich niemals auf das gute Stück setzt.“

„Ich habe mich heute schon zweimal auf die Brille gesetzt. Sie ist sehr bequem.“

„Und du hast sie dabei nicht beschädigt?“

„Wie – beschädigt! Dazu ist sie schließlich da. Wofür wurde sie sonst hergestellt?“

„Aber Klara, du kannst dich nicht einfach auf die Brille setzen. Denk an die teuren Gläser!“

„Ich kann mich sehr gut darauf setzen und es ist sehr angenehm.“

„Angenehm?“

„Ja, genau. Angenehm! Wieso auch nicht?“

„Und du hast nichts zerbrochen?“

„Also so schwer bin ich nun auch wieder nicht, Trudi! Es könnten zwar gut und gerne ein paar Kilo weniger sein, aber ....“

„Was ist das denn für eine eigenartige Brille, die du so strapazieren kannst? Das habe ich noch nie gehört. So eine Brille würde ich mir auch wünschen, wenn es einmal nötig sein sollte.“

„Du hast sie längst, eigentlich schon immer, von Geburt an.“

„Wie! Was! Verstehe ich nicht!“

„Denk mal an deine menschlichen Bedürfnisse, Trudi.“

„Du hast eine .....“

„Ja, genau!“

„Und ich habe die ganze Zeit geglaubt, du hättest eine neue Lesebrille ....“

Für einen kurzen Moment verschlägt es sogar Trudi die Sprache. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus.

„So können zwei Begriffe mit dem gleichen Namen eine große Verwirrung auslösen!“ meint sie während einer Lachpause.

Klara nickt stumm, wobei sie sich die Lachtränen wegwischt.  

  © Helga Salfer