Diese Geschichte jetzt auch als download pdf

KLEIN -  aber schon raffiniert!

 

Marie ist zwar erst fünf Jahre alt, aber die Oma  kann sie bereits um den kleinen Finger wickeln. Sie weiß auch genau wie!

An einem heißen Sommertag klingelt draußen auf der Straße der Eismann.

Spornstreichs rennt  Marie vom Garten ins Haus, stellt sich kess vor ihre Oma hin und sieht sie mit herausforderndem Blick erwartungsvoll an.

„Oma? Gibst du mir Geld für ein Eis? Ich will ein Eis wie Pia!“

„Marie, du weißt genau, was die Mami gesagt hat! Du sollst doch wegen deiner Erkältung im Moment kein Eis essen. Ich habe es ihr versprochen, dass du von mir kein Eis bekommst!“

„Och Omi, bitte, bitte! Die Mami merkt doch gar nichts davon. Wir sagen es ihr einfach nicht. Dann kann sie auch nicht böse werden.“

„Nein, Marie! Ein Versprechen muss man einhalten! Es geht wirklich nicht, heute nicht!“

Marie kneift die Augen zusammen und senkt ihren Blick zu Boden. Die Oma streichelt ihr tröstend übers Haar.

„Wir fragen die Mami heute Abend, vielleicht darfst du morgen wieder Eis essen!“

Mit herunter gezogenen Mundwinkeln und dem Weinen nahe wendet sich Marie abrupt ab. Trotzig streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich will aber jetzt das Eis und nicht morgen. Alle anderen Kinder essen auch Eis!“

Behutsam nimmt die Oma Marie in ihre Arme.

„Hör mal zu, Liebes! Wir wollen nur, dass du nicht wieder krank wirst. Der Eismann kommt hier jeden Tag vorbei. Warte noch einen Tag, So schlimm kann es wohl nicht sein, Marie. - Magst du vielleicht als Ersatz ein Erdbeertörtchen mit viel Sahne? Ich habe frische Erdbeeren, die magst du doch so gerne. Und Sahne isst du ja besonders gern.“

„Nein, nein, will ich nicht.“

Wütend stampft sie mit dem Fuß auf und stemmt ihre kleinen Hände entschlossen in die Hüften. Mit funkelnden Augen schaut sie ihre Oma an.

„Ich will das Eis aber jetzt sofort.“

In ihren Augen glänzen bereits die ersten Zornestränen.

Marie weiß nur zu gut, wie weh ihre Tränen Oma immer tun. Sie kann es nicht mit ansehen, ihre Enkelin weinen zu sehen.

Marie ist sich dessen nur zu bewusst. Sie hat sogar noch eine Steigerung parat, sollten ihre Tränen im ersten Anlauf einmal nicht ausreichen. Das kommt zwar selten vor, aber heute scheint die Oma ihren bereits tränenverschleierten Blick einfach zu ignorieren.

„Marie! Nun beruhige dich, es ist gut jetzt! Ich habe dir bereits gesagt, ich spreche nachher mit der Mami. Morgen darfst du dann bestimmt wieder ein Eis essen.“

 Kaum sind die letzten tröstenden Worte der Oma verklungen, als Marie in ein ohrenbetäubendes Geschrei ausbricht. Tränen laufen ihr übers Gesicht. Vor lauter Anstrengung läuft ihr Gesichtchen rot an und ihr kleiner Körper bebt.

Vorsichtig legt die Oma ihre Hand auf Maries Kopf, um sie zu streicheln. Doch Marie schreit nur um so heftiger und lässt sich durch nichts beruhigen. Je mehr die Oma versucht, ihr gut zuzureden, desto heftiger ist Maries Gegenreaktion.

Die Oma steht hilflos vor ihrer Enkelin, die sie über alles liebt und der sie grundsätzlich keinen Wunsch abschlagen kann.

Marie kennt ihre Oma und weiß, was jetzt in ihr vorgeht. Oft genug hat Marie mit dieser Methode schon in der Vergangenheit sogar aussichtslos erscheinende Schlachten gewonnen. Sie ist fest davon überzeugt, auch dieses Mal wieder gewinnen zu können. Ihr grelles Schreien stört die Oma ungemein, zum einen, weil sie ihr leid tut, zum anderen, weil es ihr auch peinlich vor den Nachbarn ist.

Marie weiß das und schreit deshalb entschlossen weiter, ohne dabei ihre Lautstärke zu drosseln.

„Hör auf, Marie!“ versucht die Oma es erneut, in dem sie sich bemüht, ihrer Stimme einen respekteinflößenden Ton zu verleihen, der Marie endlich dazu zwingen soll, ihr Schreien einzustellen.

Aber Maries Ausdauer ist erstaunlich. So klein wie sie ist, so raffiniert ist sie aber auch schon.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann muss die Oma einlenken, denkt sie sich.

Die Oma kennt Maries Zähigkeit, wenn es darum geht, ihre Wünsche unbedingt durchsetzen zu wollen. Sie ist sich darüber im Klaren, dass es zwar nicht richtig ist, Marie klein beizugeben, aber andererseits hat sie nicht mehr die Nerven dazu, dieser kleinen Nervensäge mit ihrem ohrenbetäubenden Theater standzuhalten. Sie will auch nicht die Nachbarschaft schon wieder an diesen unangenehmen Streitigkeiten teilhaben lassen.

Sie überlegt einen Augenblick, ob sie nicht gegenüber ihrer Enkelin handgreiflich werden soll. Doch dann hätte sie vollends verloren, geht es ihr durch den Kopf. Marie würde im Gegenzug die Welt total zusammen schreien, und dabei könnte etwas passieren, was sie als Oma nicht mehr in den Griff bekäme.

Kurz entschlossen gibt sie daher Marie Geld und schickt sie zum Eismann.

 

  © Helga Salfer