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Kurz vor dem Abgrund

 

 

Aufmerksam betrachtete Jenny ihr Spiegelbild. Der dunkelblaue Hosenanzug passte hervorragend zu ihren schulterlangen kastanienbraunen Haaren. An ihrer Figur war absolut nichts auszusetzen.

Du siehst aus wie ein Model aus dem Katalog, ging es ihr durch den Kopf. So oder ähnlich hatte Cora sich vor einigen Tagen ausgedrückt.

Aber was nutzte ihr das alles? Lars ging seit einigen Wochen seine eigenen Wege. Die Ehe mit ihm schien nach sieben Jahren in einer Sackgasse verlaufen zu sein. Sie sprachen nur noch das Nötigste miteinander. Jenny vermutete, dass eine andere Frau dahinter steckte. Allein der Gedanke daran ließ das Blut in ihren Adern wie wild pulsieren. Sie wollte Lars nicht verlieren, denn ihre Gefühle für ihn konnte sie nicht so einfach per Knopfdruck abstellen.

Wieder dachte sie an das gestrige Telefongespräch mit ihrer Freundin.

„Du musst ihn eifersüchtig machen. Sollst sehen, dann frisst er dir wieder aus der Hand“, hatte Cora beteuert. „Geh raus und unternimm etwas! Sitz bloß nicht zu Hause und spiel ihm die Gekränkte vor. So etwas mögen Männer absolut nicht.  Aber was rede ich, das weißt du viel besser als ich.“

„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich vielleicht in eine Disco gehen und ganz cool zu den jungen Männern dort sagen: Hallo, da bin ich?“

Cora hatte darauf schallend gelacht.

„Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, denk nach. Natürlich sollst du in keine Diskothek gehen. Was hältst du von einem Musical Besuch morgen Abend in der Stadthalle? Ich habe zufällig von meiner Nachbarin zwei Karten geschenkt bekommen. Ihr Mann musste ganz plötzlich beruflich verreisen und alleine wollte sie nicht hingehen. Na, hast du Lust?“

„Und ob.  Das ist eine wunderbare Idee, Cora. Ach, wenn ich dich nicht hätte.  Allein hätte ich mich vermutlich nicht aufraffen können.“

„Weiß ich doch! Also dann bis um acht. Kommst du mich abholen? Mein Wagen ist noch in der Werkstatt, ich bekomme ihn erst in zwei Tagen wieder.“

„Ja, klar! Ich freu mich. Bis morgen!“

Jenny strich sich mit der linken Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte ihrem Gegenüber zu. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war halb acht, Zeit sich auf den Weg zu Cora zu machen.

Bevor sie das Haus verließ, griff sie zu Bleistift und Papier und begann, eine Nachricht für Lars zu schreiben. Mittendrin legte sie den Stift jedoch achtlos beiseite, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb.

Wofür muss ich mich rechtfertigen? Er macht es ja auch nicht! Kommt und geht, wann es ihm passt. Was er kann, kann ich bestimmt schon lange. Entschlossen griff sie nach ihrer Tasche, schloss die Haustüre hinter sich ab und holte ihren  schwarzen VW Golf aus der Doppelgarage.

Zum Glück waren die Straßen zu dieser Zeit ziemlich wenig befahren, so dass Jenny fünfzehn Minuten später, es war jetzt fünf Minuten vor acht,  vor Coras Haus stand.

Schnell schaute Jenny noch einmal in ihren Innenspiegel, um ihr Make-up und den Lippenstift zu überprüfen. Alles war perfekt.

Cora wohnte in einem Mehrfamilienhaus in der vierten Etage. Als aus der Sprechanlage ihre Stimme erklang und sie Jenny die Türe aufdrückte,  war im Hintergrund eine fremde Stimme zu hören gewesen.

Sie wird doch wohl keinen Besuch haben und unsere Verabredung vergessen haben? dachte Jenny, während der Lift sie in das vierte Stockwerk brachte.

An der Etagentür empfing Cora ihre Freundin mit einem dicken Schal um den Hals und mit einer ein wenig heiseren Stimme.

Jenny stutzte. „Cora, was ist denn mit dir los? Du bist krank?“

„Nicht so schlimm. Meine Mandeln. Machen mir mal wieder einen Strich dadurch. Du wirst heute auf meine Gesellschaft verzichten müssen.“

„Aber du hättest mir Bescheid geben können, dann ....“

„Was dann? Warum sollen die Karten denn verfallen? Wäre zu schade. Ich dachte, du freust dich auf das Musical!“

„Sicher, aber nicht allein.“

„Hm! Deshalb hatte ich eine glorreiche Idee. Mein Bruder ist gestern für zwei Tage von seiner Amerikareise bei mir vorbei gekommen. Du weißt schon, Tom, der eiserne Junggeselle, der keine Frau an sich heran lässt. Aber mit dir ins Theater zu gehen, dazu hat er sich denn doch bereit erklärt.“

Jenny hatte Cora mit großen Augen angesehen und vor Verblüffung kein Wort heraus gebracht.

„Ich soll mit deinem Bruder ins Musical gehen? Wir kennen uns ja überhaupt nicht!“

„Wo ist das Problem? Dann lernt ihr euch eben heute kennen. Übrigens wäre es eine günstige Gelegenheit, Lars zu beweisen, dass du auch noch für andere Männer attraktiv bist und ihn nicht unbedingt nötig hast.“

„Ich weiß nicht so recht!“ meinte Jenny noch zögernd.

„Manchmal hat meine Schwester ganz gute Einfälle. Also ich habe nichts dagegen, wenn wir beide uns heute Abend ins Getümmel wagen.“

Jenny blickte verdutzt in Toms lachendes Gesicht. Er hatte schon eine geraume Zeit, von Jenny unbemerkt, im Hintergrund gestanden und dem Gespräch der Frauen amüsiert zugehört.

Sie spürte eine leichte Unsicherheit, die sie auch in ihrem Alter immer noch überfiel, wenn sie einem fremden Mann gegenüberstand, der gut aussah. Und Tom war ihr auf den ersten Blick sympathisch. Er war groß und schlank, sportlich elegant und wirkte sehr selbstsicher. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen wohl sehr bewusst.

Unauffällig musterte er Jenny,  und was er da sah, schien ihm durchaus zu gefallen.

„Ich glaube, es wird Zeit, dass ihr euch auf den Weg macht.“ Cora drehte sich zu Tom um.

„Wir sind schon weg“, warf er sogleich ein und nickte Jenny augenzwinkernd zu.

„ Wir kommen schon zurecht miteinander. Diesen Abend werden Sie mit Sicherheit nicht so schnell vergessen!“ Dabei sah er Jenny lächelnd in die Augen.

„Angeber!“ lachte Cora. „Nimm es nicht so ernst, was er sagt, Jenny! Amüsiert euch gut!“

Ein wenig irritiert nickte Jenny.

„Cora! Sollte sich nicht besser jemand um dich kümmern? Jetzt, wo du ....“

„Quatsch! Ich komme schon zurecht. Viel Spaß!“

„Kommen Sie!“ sagte Tom dicht neben ihr und berührte leicht ihren Arm. „Wenn wir um halb neun da sein wollen, müssen wir uns beeilen, Jenny. Ich darf doch Jenny zu Ihnen sagen?“

„Ja, ja sicher!“

„Nun, meinen Namen kennen Sie ja bereits. Ich hoffe,  Sie sind nicht allzu enttäuscht, den Abend nun mit mir zu verbringen.“

„Doch – schon – das heißt – nein – natürlich nicht!“

Tom lachte sie an.

„Reden Sie immer in solchen Widersprüchen? Ja! Nein! Doch!“

Jenny schüttelte den Kopf. „Nein, nein! Es tut mir für Ihre Schwester leid, dass sie nicht mitkommen kann.“

„Eigentlich bin ich ihr ganz dankbar dafür, sicher nicht, dass sie diese Halsschmerzen hat. Aber auf diese Art und Weise verbringe ich ganz unverhofft einen Abend mit einer sehr netten Frau.“

Jenny spürte wieder diese Unsicherheit hochsteigen.

Verflixt, dachte sie, warum passiert mir das noch nach so vielen Ehejahren? Ich glaubte eigentlich, nur als Teenager erlebte man solche Momente.

Doch insgeheim musste sie sich eingestehen, ein Abend mit einem fremden Mann, der ihr dazu noch ausnehmend gut gefiel, hatte schon seinen ganz besonderen Reiz. Zudem brauchte sie ja auch kein schlechtes Gewissen wegen Lars zu haben. Er schien sich ja vermutlich auch anderweitig gut zu unterhalten.

Als sie die Stadthalle endlich erreichten, war es fünf Minuten vor halb neun. Sie schafften es gerade noch, ihre Plätze zu besetzen, als die Vorstellung begann.

Jennys Gedanken waren allerdings ganz woanders und nicht bei der Vorführung, die Ihnen geboten wurde. Sie war irgendwie zu aufgeregt, um sich dem Musical zu widmen. Tom schien es ähnlich zu gehen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Jenny manchmal seinen Blick auf ihr ruhen. Sie spürte, dass es ihr sehr gut tat.  Irgendwie war es ein prickelndes Gefühl, dieses Fremde, Ungewisse.

Je mehr Jenny darüber nachdachte, desto stärker festigte sich in ihr der Verdacht, dass Cora dieses Spiel mit Absicht eingefädelt hatte. Vermutlich hatte sie gar keine entzündeten Mandeln. Das war mit Sicherheit nur eine Ablenkung gewesen. In Wahrheit wollte sie ihr, Jenny, die Gelegenheit geben,  es Lars gleichzutun. Und Tom spielte dieses Theater mit, um kein Spielverderber zu sein.

Oh, Cora! Du bist unverbesserlich!  Jenny biss sich auf die Unterlippe.

„Hallo Jenny“, flüsterte Tom dicht neben ihrem Ohr. „Sie sind ja ganz hin und weg von der musikalischen Darbietung!“

Jenny zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Vorstellung bereits beendet war und die ersten Besucher den Saal verließen.

„Ja, es war wunderschön.“

„Darf ich Sie denn noch zu einem Glas Wein in ein nettes Lokal ganz hier in der Nähe einladen? Sie würden mir eine große Freude machen. Sagen Sie bitte nicht nein!“

Jenny schaute ihn an und konnte sich seinem Charme nicht entziehen. Sie freute sich über sein Angebot und willigte mit einem strahlenden Lächeln ein.

Draußen war es abgekühlt und Jenny fror ein wenig. Tom bemerkte es sogleich und legte behutsam seinen Arm um ihre Schultern. Sie ließ es geschehen. So gingen sie den kurzen Weg zu Jennys Wagen.

Jenny fühlte sich beschwingt und glücklich wie schon lange nicht mehr.

In dem Weinlokal in der Altstadt fanden sie in einer kleinen Nische einen Tisch für zwei Personen. Bei Kerzenschein und Wein unterhielten sie sich eine ganze Weile sehr angeregt.

Jenny fühlte sich sehr wohl in Toms Gegenwart. Er schenkte ihr uneingeschränkte Aufmerksamkeit, war zuvorkommend und charmant. Wie im Flug verging die Zeit.

Als Jenny einmal kurz auf ihre Armbanduhr sah, stellte sie mit Erstaunen fest, dass es bereits viertel nach zwölf war.

„Ich muss jetzt wirklich nach Hause,“ sagte sie zu Tom gewandt. „Ich habe morgenfrüh eine wichtige Besprechung, da muss ich ausgeschlafen sein.“

„Ja, natürlich!“ Tom sah sie an.

Jenny glaubte in seinen Augen lesen zu können, was ihr dieser Blick sagte. Ein wenig unsicher schaute sie zur Seite und fasste nach ihrer Tasche.

„Sie sind selbstverständlich eingeladen,“ sagte Tom und winkte dem Kellner, um die Rechnung zu bezahlen.

Jenny presste die Lippen zusammen und nickte stumm.

Fünf Minuten später verließen sie das Lokal. Es hatte zu regnen begonnen. 

„Wir müssen zum Wagen laufen, sonst werden wir sehr nass!“ Tom griff nach Jennys linker Hand.

Wie zwei Kinder liefen sie lachend durch den Regen, ohne ihn so recht zu spüren.

Beide genossen sie die Nähe des anderen.

Jenny musste sich eingestehen, dass sie den ganzen Abend keinen Moment mehr an Lars gedacht hatte. Machte sie sich da etwas vor, wenn sie glaubte, ihn immer noch zu lieben?

Vor Coras Haus ließ sie Tom aussteigen. Beim Abschied hauchte er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

„Ich hoffe, der Abend hat Ihnen gefallen, Jenny. Fahren Sie bitte vorsichtig – und viel Erfolg morgen bei Ihrer Besprechung!“

„Ja, ja ! Danke!“ erwiderte Jenny. „Der Abend mit Ihnen war wunderschön und bestellen Sie Cora einen Gruß und gute Besserung von mir.“

„Mach ich doch gerne!“ Dann drehte er sich abrupt um, ohne sich noch einmal umzublicken.

Jenny seufzte.

„Was hatte sie erwartet? Dass er sie aufforderte, bei ihm zu bleiben? Oder, dass er sie wiedersehen wollte?“ Sie spürte ein leichtes Gefühl der Enttäuschung.  Tom gefiel ihr wirklich gut. Wenn sie nicht mit Lars verheiratet wäre, dann ...

Lars – ob er wohl schon zu Hause war? Vermutlich nicht. Wer weiß, wo er sich aufhielt.

Langsam fuhr Jenny durch die nächtlichen, menschenleeren Straßen und fühlte sich ein wenig einsam und verlassen. Nun würde sie in ein leeres Haus kommen, wo sie alles an ihre gemeinsame Zeit mit Lars, die nun vorbei zu sein schien, erinnerte.

Jenny merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

Zehn Minute später erreichte sie ihr Haus. Als sie das Garagentor öffnete, stand dort der BMW ihres Mannes an seinem Platz geparkt.

Jennys Herz klopfte plötzlich bis zum Hals.

Als sie das Haus betrat, drang ein Lichtschein aus dem Wohnzimmer zu ihr in die Diele.

Jetzt ist er schon so dreist und bringt seine Freundin einfach mit nach Hause, ging es Jenny durch den Kopf. Vermutlich treffe ich sie jetzt in einer verfänglichen Situation an, wenn ich direkt ins Wohnzimmer gehe. Andererseits bin ich hier noch die Herrin und nicht die andere. Jenny biss sich auf die Unterlippe. Dann entschloss sie sich, die Flucht nach vorne anzutreten und ging auf die Wohnzimmertüre zu.

Im gleichen Moment öffnete Lars die Türe und trat auf Jenny zu.

Sie drehte den Kopf zur Seite, um an ihm vorbei ins Wohnzimmer sehen zu können.

Lars bemerkte ihren prüfenden Blick. „Suchst Du jemanden?“

„Ja – nein – ich dachte, es wäre noch jemand bei Dir!“

„Bei mir? Hier? Wer denn? Um diese Zeit? Ich bin froh, dass du jetzt hier bist. Ich habe eine tolle Überraschung für dich. Komm!“

Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie mit ins Wohnzimmer. Jenny ließ es einfach geschehen. Verstört ließ sich in einen Sessel sinken. Was  mochte Lars für eine Überraschung für sie parat halten? Wollte er sich von ihr trennen? Dann hätte er aber sicher nicht gesagt, er hätte eine tolle Überraschung für sie.

„Ich habe eine wunderbare Neuigkeit“, begann Lars. „Wir beide werden für ein Jahr nach Amerika gehen. Mein Chef hat mir dort die Aufsicht unserer Zweigstelle übertragen. Heute morgen ist die Entscheidung nach wochenlangen Verhandlungen endgültig gefallen. In drei Monaten ist es soweit. Du hast also genügend Zeit, deine Kündigung bei Schramm & Breuer einzureichen. Als meine persönliche Dolmetscherin wirst du in Amerika einen wesentlich interessanteren Posten innehaben. Wie findest du das?“

Jenny starrte Lars ungläubig an. Für Sekunden verschlug es ihr die Sprache. Stumm schüttelte sie den Kopf. Doch dann sprudelte es nur  so aus ihr heraus.

„Ich  soll mit dir nach Amerika gehen und meine Projektleiterstelle so einfach aufgeben? Niemals! Für dich mag Amerika ja reizvoll sein, für mich hat es an Bedeutung verloren. Ich fühle mich hier wohl, wo meine Freunde sind, mir die Arbeit gefällt und – und wo ich zu Hause bin.“

„ Aber es war doch immer unser gemeinsamer Traum gewesen, einmal in Amerika zu arbeiten. Du wirst dort viel bessere Berufschancen haben und Freunde – wir lernen dort viele neue Freunde kennen. Du wirst sehen, es wird wunderschön. Wir zwei in Amerika – unser Traum wird endlich wahr. Zusammen werden wir es ganz bestimmt schaffen, uns dort ein neues Zuhause zu gestalten.“

„Pah, zusammen! Wir haben ja hier schon in den letzten Monaten nebeneinander her gelebt. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich hier alle Brücken abbreche, um mit dir zu gehen? Und meinen sicheren Job kündigen? Kommt überhaupt nicht in Frage.

Du meinst wohl, du könntest so ohne weiteres über mich bestimmen und alles nach deinen Wünschen und Vorstellungen planen.  Nein! Das lasse ich mir absolut nicht bieten. Warum nimmst du nicht deine Freundin mit? Was sagt sie denn dazu, dass du mit mir in die USA willst?“

„Wer bitte?“ Lars zog die Augenbrauen hoch. „Meine Freundin? Wer hat dir denn den Floh ins Ohr gesetzt? Ich und eine Freundin? Du weißt genau, dass ich nur  dich liebe und immer lieben werde.“

„Und warum hattest du dann in den vergangenen Wochen kaum Zeit, mit mir zu sprechen? Nie warst du abends vor elf, halb zwölf zu Hause. Wo hast du dich denn die ganze Zeit herum getrieben, wenn nicht bei einer anderen Frau?“

„Ich habe mich mit keiner Frau getroffen, weil es gar keine gibt. Aber ich hatte sehr viel um die Ohren. Die Besprechungen in der Firma dauerten bis in die späten Abendstunden. Das habe ich dir doch immer wieder erzählt. Du kennst doch Braun. Sein Ehrgeiz frisst ihn beinahe auf. Der kennt keine Zeiten. Und die Firma ist für ihn wichtiger als Familienleben. Das gleiche erwartet er eben auch von seinen Mitarbeitern, in diesem Fall von mir. Ich habe es nur für uns getan. Glaube mir bitte!“

„Erwarte bitte nicht, dass ich dir dafür um den Hals falle und mich jetzt freue“, erwiderte Jenny kühl. „Es war schwer genug für mich, Tag für Tag zu erleben, wie wir uns immer mehr auseinander lebten, dadurch, dass wir kaum noch ein Wort miteinander wechselten. Und nun kommst du so einfach daher und tust so, als ob alles in bester Ordnung wäre.“

„Aber das ist es doch auch, Jenny. Ich liebe dich, dich allein. Es ist mir in der ganzen Zeit durch den Stress, den ich hatte, nicht bewusst gewesen, dass du dich verletzt und vernachlässigt gefühlt hast. Das tut mir furchtbar leid. Habe Vertrauen zu mir, ich habe dich nicht betrogen und würde es auch niemals tun.“

Lars trat auf Jenny zu und zog sie sanft aus dem Sessel hoch. Zärtlich schloss er sie in seine Arme und versuchte, sie zu küssen. Doch Jenny wehrte sich entschieden. So leicht war sie nicht wieder zu gewinnen. Sie war mit ihren Gedanken noch woanders.

Sie  überlegte, ob sie sich da vielleicht in eine Wahnsinnsidee hinein gesteigert hatte, in dem sie angenommen hatte, Lars hätte eine Freundin.  Andererseits – selbst wenn es nicht so war -  gefiel ihr der Gedanke gar nicht, dass er so einfach über ihren Kopf hinweg geplant hatte, ohne sie vorher gefragt zu haben, ob sie einverstanden sei. Schließlich hätte er das Amerika Angebot auch ausschlagen können.

„Du kommst doch mit?“ flüsterte Lars dich an ihrem Ohr. „Wir gehören zusammen, Jenny! Du weißt es so gut wie ich!“

„Ich kann und will aber meine Arbeitsstelle nicht so ohne weiteres aufgeben. So, wie du dir das vorstellst, so läuft es nicht, Lars.  Du kannst nicht einfach über mich bestimmen und mich vor vollendete Tatsachen stellen.“

Sie befreite sich aus seiner Umarmung.

„Ich bin furchtbar müde und muss jetzt unbedingt schlafen. Morgen ist ein wichtiger Tag für mich in der Firma.“

Sie griff nach ihrer Tasche, verließ das Wohnzimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen und ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.

 

  © Helga Salfer