Diese Geschichte jetzt
auch als
download pdf Denkmal der Gebrüder Grimm in Kassel Was
hat man nicht schon alles über Märchen gesagt: Ammengeschichten seien
sie, grausam und sexistisch. Zeitweilig wurde gefordert, sie aus den
Schulbüchern zu verbannen. Doch das hat ihrer Beliebtheit keinen
Abbruch getan. Und damals wie heute sind die Heldinnen und Helden der Märchen
bekannter als alle literarischen Gestalten. Mancher
kennt Goethes Faust und Shakespeares Prinz Hamlet, aber jeder
Aschenputtel und den Märchenprinzen, der das schöne Dornröschen wach
küsst. Die
Kinder hat der Streit der Experten wenig gekümmert. Und
auch im Zeitalter der Computer lassen sie sich ihre Freude an
Schneewittchen, Rotkäppchen und dem tapferen Schneiderlein nicht
nehmen. Die
magische Welt der Märchen hilft dem Kind, seine Erlebniswelt mit ihren
Ängsten zu bewältigen, denn es projiziert Ängste und Wünsche auf die
Märchenfiguren und Geschehnisse. Manche
Märchen kann man schon den Jüngsten vorlesen, zum Beispiel die
Geschichte von den drei kleinen Schweinchen: Keck
sind sie in die Welt hinaus gezogen, mussten aber erfahren, wie gefährlich
das Leben sein kann. Der böse Wolf ist immer auf der Suche nach Opfern.
Deshalb baut sich jedes ein Haus: eines aus Stroh, eines aus Holz und
eines aus Stein. Die
Schweinchen lachen und sagen: „Nun soll der Wolf kommen.“ Er
kommt, bläst das Strohhaus weg und wirft das Holzhaus um, aber die
beiden Schweinchen retten sich ins Steinhaus. Dort schürt das klügste
der drei das Feuer unter dem großen Wasserkessel. Der
Wolf fährt durch den Kamin, landet im kochenden Wasser, und aus ist es
mit ihm. Die
Lehre liegt auf der Hand: Mag man auch nur ein kleines Schweinchen sein,
kann man dennoch dem bösen Wolf entkommen – wenn man schnell ist. Und
ist man schlau genug, kann man ihn sogar bezwingen. Das macht Mut, gibt
Zuversicht und stärkt das Selbstvertrauen. Die
Geschichte ermuntert zaghafte Kinder, die sich zu sehr an die Mama
klammern, zu mehr Unternehmungsgeist. Das Märchen bremst aber auch jene
Gernegroße, die glauben, die Welt in die Tasche stecken zu können. Diese
Kinder erfahren, wer sich überschätzt oder zu bequem ist, sich ein
festes Haus zu bauen, läuft Gefahr, gefressen zu werden, oder wird tatsächlich
gefressen wie in der ursprünglichen Version des Märchens. Einen
ganz anderen Umgang mit dem gefährlichen Wolf zeigt die Geschichte von
Rotkäppchen – ein Märchen, das allzu brave Kinder ermuntert, auch
einmal eigene Wege zu gehen, sie aber gleichzeitig davor warnt, zu
sorglos zu sein. Die Heldin verspricht zwar am Anfang, auf die Mutter zu
hören. Aber kaum ist sie weg von zu Hause, tut sie das Gegenteil. Keck
spricht sie mit dem bösen Wolf, läuft vom Weg ab, zieht bei aller
Angst die Bettvorhänge zurück und will es am Schluss ganz genau
wissen. Das
geht ins Auge, sie wird gefressen. Früher
haben Erzieher bei diesem Märchen gern den Zeigefinger erhoben und erklärt:
„So ergeht es den Ungehorsamen und Neugierigen!“ Doch
was sehen die Kinder tatsächlich? Ihrer
Heldin wird kein Haar gekrümmt, frisch und gesund überlebt sie ihr
Abenteuer, feiert mit Oma und dem Jäger den Sieg über den Wolf. Rotkäppchen
hat keinen Schaden genommen, ist aber um etliche Erfahrungen reicher.
Sie hat im Wald erlebt, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und
her tanzen, und weiß eine Menge mehr über Wölfe. Die
Kinder, die sich mit Rotkäppchen identifizieren, erleben, was die Märchenheldin
erlebt, und gewinnen zusammen mit ihr Selbstbestimmung. Ist
ein Kind eher weinerlich und verliert in kritischen Situationen leicht
den Mut, kann es sich mit Hänsels Schwester Gretel trösten, die auch
so ist: Sie
klagt, weint bittere Tränen und sieht keine Hoffnung. Da
fühlt man sich mit seiner Schwäche weniger allein, teilt man sie doch
mit einer Märchenheldin. Das
Schöne ist, dass Gretel keineswegs verzagt bleibt, vielmehr am Ende die
böse Hexe überlistet und in den Ofen schiebt. Dadurch rettet sie ihr
Leben und das ihres Bruders Hänsel. In
jedem Kind, das sich schwach und kleinmütig vorkommt, wird auf diese
Weise die Hoffnung geweckt, dass auch ein
Trau – mich – nicht Großes leisten kann. Offensichtlicher
ist die bestärkende Wirkung Hänsels. Die
Eltern wollen die Kinder aussetzen, und Gretels Tränen sind nur zu
verständlich. Hänsel hingegen bleibt gelassen, tröstet sogar noch
seine Schwester. Er gibt ein Beispiel dafür, wie man auch in
schlimmster Lage den Kopf nicht hängen lässt. Darüber hinaus findet
er einen Ausweg aus der verzweifelten Situation. Er
streut Kiesel auf den Weg, und die beiden gelangen glücklich nach Hause
zurück. An
Hänsels Zuversicht, Mut und Tatkraft können Kinder sich aufrichten. Doch
nur am Anfang der Geschichte ist Hänsel Herr der Lage. Und schlau war
nur sein erster Versuch – der zweite scheitert, denn die Vögel
fressen seine Brotkrumen. Sein
Versprechen, auch allein aus dem Wald heraus zu finden, kann er nicht
halten. Und schließlich sitzt er hilflos im Ställchen. Er
verliert auch da den Mut nicht, täuscht geschickt die Hexe, indem er
ihr ein Knöchelchen hinaus streckt. Ohne
Gretel wäre er verloren gewesen, und ohne sie wären die beiden auch
nicht über das Wasser gekommen. Die
beiden überleben, weil sie sich als Junge und Mädchen ideal ergänzen.
Sie vermitteln zudem allen Kindern die ermutigende Vorstellung, dass
Schwierigkeiten, und seien sie auch noch so groß, sich überwinden
lassen, wenn man nur zusammen hält. Welches
Kind fühlt sich nicht manchmal wie ein Aschenputtel – zu wenig
geliebt, zu wenig beachtet, ungerecht behandelt? Was
immer ihm an Frust widerfahren ist, der Märchenheldin ist es schlimmer
ergangen: Vom
Vater vergessen, von der Stiefmutter zur Küchenmagd degradiert, von
deren Töchtern verspottet, hockt das arme Kind in der Asche und muss
dazu noch unlösbare Aufgaben bewältigen. Es
ist ungemein tröstlich, sich mit jemandem zu identifizieren, dem es
weit schlechter geht als einem selbst – Trost bestärkt. Und
das ist erst der Anfang: Denn nun steigt das Kind zusammen mit der Märchenheldin
zu höchstem Glanz auf, gewinnt den schönen Prinzen und sticht ganz
nebenbei die herzlosen Stiefschwestern aus, die am Ende ihren verdienten
Lohn erhalten. Das
ist Balsam für die Seele. Es
gibt ein wegen seiner Grausamkeit umstrittenes Märchen von einem, der
auszog, das Fürchten zu lernen. Gerade
diese Geschichte ist aber besonders geeignet, jene Kinder zu stärken
und aufzubauen, die als unbegabt und eigenbrötlerisch gelten. Die
meisten von ihnen haben es nicht leicht. Mütter und Väter sind oft mit
ihnen nicht recht glücklich, und die Lehrer schon gar nicht. Diese
Kinder finden sich in Held Hans wieder. Am liebsten hockt er untätig in
seiner Ecke und überlässt das Arbeiten dem klugen, tüchtigen Bruder,
denn Hans ist von seiner eigenen Unfähigkeit überzeugt. Deshalb gilt
er als Dummkopf. Und
die Leute sagen: „Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!“ Doch
nun will er das Gruseln lernen! Der
Küster heißt ihn um Mitternacht die Glocken läuten. Dann schleicht
der sich, angetan mit einem weißen Nachthemd, die Treppen hoch, um den
Jungen dort oben als Gespenst das Fürchten zu lehren. Dreimal
fordert Hans ihn auf zu sagen, wer er sei, dann stößt er ihn die
Treppe hinunter. Der
Mann bricht sich ein Bein. Hans
wird fort gejagt. Er soll keinem Menschen sagen, woher er komme und wer
sein Vater sei, denn man müsse sich seiner schämen, bekommt er zu hören. Er
reagiert ähnlich gelassen wie Hänsel. „Ja,
Vater, wie Ihr’ s haben wollt.“ Wer
ihm nur eine Spur der Gelassenheit abzugucken vermag, wird schon einen
Gewinn haben. Und bis Hans die Prinzessin gewinnt und am Ende doch noch
das Gruseln lernt, bietet er weitere seelische Aufrüstung, die nicht
nur Außenseitern den Rücken stärkt. Kinder
brauchen Märchen, darüber bestehen keine Zweifel. Nur in welchem
Alter? Ab
dem 5. Lebensjahr werden Märchen für Kinder wichtig, aber auch noch im
Jugendalter hören oder lesen Kinder Märchen gern. Zwingen
Sie Ihrem Kind keine Geschichte auf, die es nicht hören will. Verlassen
Sie sich auf sein Gefühl. Häufig
haben Kinder auch Lieblingsmärchen, die sie immer wieder hören wollen.
Gehen Sie auf den Wunsch ein. Und wenn sei bei einer Geschichte einmal
aus Mitgefühl weinen sollten, so schadet das auch nicht – ganz im
Gegenteil. Welche
Märchen können ein Kind beruhigen? Im Prinzip alle, die ein gutes Ende
haben. Es erlöst die Kinder aus der Spannung, befreit von Ängsten,
auch und gerade dann, wenn am Schluss der Bösewicht im Backofen landet.
Beruhigend
ist aber allein schon das Erzählen oder Vorlesen eines Märchens. Die
Kinder können dabei die Zuwendung eines vertrauten Erwachsenen genießen. Auch
das macht Kinder stark. ©
Helga Salfer Anmerkung: Dieser Text mit seinen Recherchen entstand während meiner dreijährigen Ausbildung an der 'Axel Anderrson Akademie'. Er gehörte zu einer meiner Aufgaben, die lautete: "
Unsere Welt populär dar gestellt "
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