Diese Geschichte jetzt auch als download pdf
   Mit knapper Not entkommen            

 

 

Am späten Nachmittag eines wunderschönen Frühlingstages bummelten die beiden Freundinnen Marianne und Andrea vergnügt und gutgelaunt durch die Einkaufszone einer Kleinstadt.  

„Ich könnte jetzt eine große Portion Eis vertragen. Du auch?“

Marianne sah Andrea augenzwinkernd an.

„Nichts dagegen.“ Andrea griff nach Mariannes Arm.

„Da vorne an der Ecke ist eine Eisdiele. Sie haben sogar schon die Stühle heraus gestellt. Extra für uns, damit uns in der Fußgängerzone nur ja nichts entgeht.“

Die beiden sahen sich an und lachten. Zielstrebig gingen sie auf das Eiscafé zu und suchten sich einen Tisch gleich neben dem Eingang aus.

Während sie die Eiskarte studierten, nahm einige Tische von ihnen entfernt ein elegant gekleideter, schwarzhaariger, junger Mann Platz. Seine Augen wurden von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt. An seiner rechten Hand trug er einen breiten goldenen Siegelring.

Er hatte sich sogleich in eine Zeitung vertieft.

Als Marianne und Andrea die Karten weglegten und ihre Bestellungen aufgaben, stieß Marianne Andrea vorsichtig mit dem Fuß an.

„Was ist? Was hast du denn?“ Andrea sah ihre Freundin überrascht an.

„Du bist ja plötzlich ganz blass. Ist dir nicht gut? Sollen wir lieber gehen? Mein Gott! Was hast du denn?“

„Der Mann da drüben,“ stieß Marianne mühsam hervor. „Ich glaube, ich erkenne ihn wieder. Er war es. Er muss es gewesen sein! Der auffällige Ring, die elegante Kleidung, die dunkle Sonnenbrille ... ! Ich fass es nicht!“

„Jetzt aber mal langsam!“ flüsterte Andrea. „Wovon sprichst du? Ich  weiß ja überhaupt nichts! Wen hast du mir denn da nicht vorgestellt?“

„Von wegen nicht vorgestellt!“ Marianne verdrehte die Augen. „Hoffentlich erkennt er mich nicht wieder. Ich habe Angst.“

„Aber der beachtet uns doch gar nicht. Sieh mal, die Cola hat er schon fast ausgetrunken. Der geht bestimmt gleich wieder, ohne sich nach uns umzudrehen.“ Andrea legte beruhigend ihre Hand auf Mariannes Schulter.

Die beiden bekamen ihren Eisbecher. Kurze Zeit später faltete der Mann tatsächlich seine Zeitung zusammen, bezahlte und ging, ohne Marianne und Andrea bemerkt zu haben, seiner Wege.

„Siehst du!“ sagte Andrea. „Nun ist er weg! Aber jetzt erzähl doch mal, woher du ihn kennst, und warum du ihn mir verschwiegen hast.“

Andrea stellte ihren leeren Eisbecher beiseite und schaute Marianne erwartungsvoll an.

„Nun schieß mal los!“

Also gut:

 Es ist jetzt vier Monate her. Ich hatte meinen Wagen zur Reparatur in die Werkstatt gebracht.

Ich sollte ihn donnerstags gegen 17.00 Uhr wiederbekommen. Aber ein Mechaniker war krank geworden, und so wurde nichts draus.

Ich musste mich also zu Fuß auf den Weg zur 1,5 Kilometer entfernten Bushaltestelle machen. Es dämmerte bereits, als plötzlich ein weißer Mercedes am Straßenrand hielt. Ich wollte schon vorbeigehen. Aber ein junger Mann kurbelte die Fensterscheibe herunter und hielt mir einen Stadtplan hin.

Er sagte höflich: „Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie wie ich zum Bahnhof komme? Ich kenne mich hier leider nicht aus.“

Mir fiel sofort sein gepflegtes Aussehen auf und der goldene Siegelring an seiner rechten Hand. Er lächelte mich freundlich an, wobei er seine dunkle Sonnenbrille kurz absetzte.

Ich zögerte einen Moment. Doch dann überlegte ich mir: Wenn du in einer fremden Stadt bist, möchtest du auch, dass dir der richtige Weg gezeigt wird.

Ich trat vorsichtig an das Auto heran und zeigte ihm, wie er auf schnellstem Weg zum Bahnhof kommen würde.

„Hattest du Angst, dass er dich in den Wagen ziehen würde?“

Nein, nein! Er war so nett, dass ich mich in diesem Moment dafür schämte, überhaupt an etwas Böses gedacht zu haben, als ich an den Wagen heranging.

Doch etwas erscheint mir im nachhinein eigenartig:

Zunächst war ich damit beschäftigt gewesen, ihm den kürzesten Weg zum Bahnhof auf der Karte zu zeigen. Ich hatte nur Augen für die Straßenzüge und bemerkte zuerst gar nicht, dass er mich die ganze Zeit angesehen hatte. Der Stadtplan interessierte ihn offensichtlich nicht.

„Und hast du ihn gefragt, warum er dich so ansieht?“

Nein, natürlich nicht! Er war ja nicht aufdringlich. Ich glaubte ganz einfach, dass ich ihm gefiel. Ich fand ihn auch nett und sympathisch. Das muss er gespürt haben.

Ich hatte plötzlich das Gefühl, dieser Mann ist dir nicht fremd. Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, obwohl ich ihn nicht kannte, und er sich mir auch nicht vorgestellt hatte. Es war eben ein spontanes positives Gefühl, das ich da empfand. Und ich dachte mir, ihm geht es vielleicht genauso. Er mag mich.

Als ich mich dann von ihm verabschiedete, bedankte er sich überschwänglich bei mir.

Ich blickte auf meine Uhr und sagte ihm: „ Jetzt muss ich mich aber beeilen, sonst verpasse ich meinen Bus. Ich muss noch zehn Minuten bis zur Haltestelle laufen.“

Ich  winkte ihm kurz zu und ging mit eiligen Schritten in Richtung Haltestelle. Doch schon nach wenigen Metern hielt der weiße Mercedes wieder neben mir.

„Steigen Sie ein. Sie haben mir eben geholfen. Jetzt stehe ich in Ihrer Schuld. Vergessen Sie Ihren Bus. Ich fahre Sie nach Hause.“

„Und? Bist du eingestiegen?“

Im ersten Augenblick war ich ganz schön verdutzt. Dann forderte er mich noch einmal auf und sagte: „ Machen Sie mir die Freude, mich revanchieren zu dürfen“.

Er sah mich lächelnd an. Seine Sonnenbrille hatte er jetzt abgesetzt. Sein Blick wirkte ehrlich und offen. Obwohl immer wieder davor gewarnt wird, bei fremden Männern ins Auto zu steigen, ließ ich mich nicht abhalten und fuhr mit.

Ich verließ mich lieber auf meine Menschenkenntnis, als auf die Aussagen anderer Leute.

„Hat er dich nach Hause gebracht? Oder habt ihr vorher noch in einem Restaurant gegessen?“

Von wegen, das dicke Ende kommt noch. Mir werden jetzt noch die Beine weich und die Angst sitzt mir wie eine Faust im Nacken, wenn ich nur dran denke. Wie konnte ich nur so leichtsinnig sein? Warum fällt eine Frau immer auf einen gut aussehenden Mann herein? Ich weiß heute nicht mehr, wie mir das passieren konnte. Nie wieder werde ich mich auf so eine gefährliche Sache einlassen.

„Was ist denn eigentlich passiert? Du bist ja jetzt noch ganz aufgeregt.“

Da kannst du was von halten. Wenn du das erlebt hättest, würdest du nicht so ruhig hier sitzen.

„Nun erzähl schon weiter. Du machst mich richtig nervös.“

Na ja, ich bin also eingestiegen und habe ihm erklärt, wo ich wohnte. Aber glaub nicht, dass er die Absicht hatte, mich wirklich nach Hause zu bringen.

„Wieso?“

Weil er spontan die Richtung wechselte. Sofort nachdem ich eingestiegen war, wendete er den Wagen und bog nach ein paar Metern in einen Feldweg ab.

Schlagartig gingen bei mir alle Sirenen los. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Klar! Er wollte überhaupt nicht zum Bahnhof, deshalb interessierte ihn der Stadtplan auch nicht.

Vermutlich hat er meine Hilfsbereitschaft so eingeschätzt, dass er glaubte, mit mir ein leichtes Spiel zu haben.

„Und was geschah dann?“

Ich forderte ihn auf, zurückzufahren, weil dies doch der falsche Weg sei. Gewaltsam bemühte ich mich um eine ruhige Stimme, damit er meine  furchtbare Angst, die ich hatte, nicht merkte. Doch er reagierte nicht und fuhr noch einige Meter weiter den Weg entlang.

Mitten auf dem Weg hielt er plötzlich an und stieg aus. Er ging ein paar Meter weiter den Feldweg entlang. Ich weiß nicht, was er vorhatte. Ich wusste nur eines:

           So schnell wie möglich hier raus!

Ich stürzte aus dem Wagen und rannte den Weg zurück, so schnell es ging. Ich traute mich nicht, mich umzudrehen.

Irgendwie gelangte ich wieder auf die Straße. Auf jeden Fall brachte ich es zuwege, einen Wagen anzuhalten, in dem eine Frau und ein Kind saßen. Mit Mühe konnte ich der Frau erklären, was passiert war.

Sie war so nett und hat mich wirklich nach Hause gefahren.

 

  © Helga Salfer