Sue steht gerade unter der Dusche, als ihr
Telefon schrill läutet. „Verflixt!“
sagt sie laut zu sich selbst. „Immer im ungünstigsten Moment schellt das
Ding.“ Sie dreht
das Wasser ab und wickelt sich in ihr Badetuch. Mit nackten Füssen tapst sie
ins Wohnzimmer und erwischt gerade beim letzten Klingeln den Apparat.
„Sue Kramer!“ Ihre Stimme klingt kühl und
reserviert. Mit einer Handbewegung streicht sie sich die nassen Haare aus dem
Gesicht. „Hallo,
Sue! Ich bin es, Mike!“ Danach herrscht auf beiden Seiten betretenes
Schweigen.
Sue stockt der Atem. Mike! Sie hatte ihn auf
einer Silvesterparty kennen gelernt. Damals hatte er gerade sein Examen als
Diplom-Betriebswirt bestanden. Er war der Mittelpunkt der Feier gewesen. Und
nicht nur wegen seiner mit Auszeichnung bestandenen Prüfung. Es gab kaum ein Mädchen,
das sich seinem Charme entziehen konnte oder wollte. Auch Sue
hatte sich auf den ersten Blick in ihn verliebt.
Als Bea ihr Mike vorgestellt hatte, hatte sie vor
Verlegenheit kein Wort heraus bekommen. Mike hatte ihre Unsicherheit jedoch kaum
zur Kenntnis genommen. Die Freundinnen seiner kleinen Schwester interessierten
ihn absolut nicht. Sie waren ihm mit ihren siebzehn Jahren einfach zu jung und
zu unreif erschienen. Er hatte nur Augen für seine damalige Freundin
Dagmar gehabt. Die Beiden hatten sich nicht gescheut, allen Umstehenden ihre
Liebe zueinander offen zu zeigen. Zehn Jahre später, auf Beas 28. Geburtstag,
hatte es das Schicksal gewollt, dass sich Sue und Mike näher kennen lernten. Er hatte plötzlich hinter ihr gestanden. „Haben Sie
Lust, mit mir zu tanzen?“ Mit einem tiefen Blick in ihre Augen hatte er sie
auf die Tanzfläche gezogen. „Ich bin
glücklich, Sie hier zu sehen,
Sue!“ hatte er dicht an ihrem Ohr geflüstert. „Sie sind schöner als je
zuvor!“ Sue war irritiert gewesen und hatte ihm absichtlich grob geantwortet.
„Sie irren sich, wenn Sie glauben, mich mit dieser Schmeichelei beeindrucken
zu können.“ „Es ist
die Wahrheit“, hatte er protestiert. „Sue, Sie sind eine außergewöhnliche
Frau mit einer großen Ausstrahlung. Sie hatte
ihm klar machen wollen, es sei nun Zeit, das absurde Gespräch zu beenden. „Wie darf
ich das verstehen?“ hatte er sie erstaunt gefragt und dabei fester in seine
Arme gezogen.
Sues Herz hatte bis zum Hals geklopft. Diesen
Moment hatte sie sich schon vor zehn Jahren auf der Silvesterparty sehnlichst
gewünscht. Nun war sie zehn Jahre älter und ihre Gefühle für Mike, die sie
in all den Jahren versucht hatte zu verdrängen, wurden neu geweckt. Sie hatte
sich wie ein Teenager Hals über Kopf in ihn verliebt. Von Bea hatte sie
erfahren, seine langjährige Freundin Dagmar hätte sich von ihm getrennt. Eine kleine
Stille war zwischen ihnen entstanden.
Sie hatte sich sehr wohl gefühlt in Mikes Armen.
Doch dann stand plötzlich Marks Bild vor ihren Augen. Mit einer abrupten
Bewegung war sie aus seiner Umarmung geschlüpft. „Nein,
bitte nicht!“ „Sue! Was
ist denn? Was haben Sie denn gegen mich?“ Er hatte sie überrascht angesehen. „Nichts, Mike, es hat nichts mit Ihnen zu tun! Der Mann, den
ich liebte, hat mich verlassen. Ich bin noch nicht bereit für eine neue
Beziehung. „Wenn es
nur ein wenig Hoffnung gibt, werde ich geduldig warten. Kann ich hoffen?“ Sie
hatte seinen Atem an ihrer Wange gespürt. „Ich mag
Sie, Mike. Wirklich. Aber, ob es je mehr sein wird, kann ich Ihnen nicht
versprechen.“ Sie hatte
die Sehnsucht in seinen dunklen Augen gesehen. „Wie lange
werden Sie Ihrer Liebe noch nachtrauern?“ „Ich weiß
es nicht!" Sue hatte es
vermieden, Mike in die Augen zu sehen. Sie hatte Angst gehabt, seinem Charme zu
erliegen. Mike hatte
wohl erraten, was in ihr vorgegangen war. Er hatte sie lange angesehen, bevor er
zu reden begonnen hatte. „Ich bin
froh, Sie wieder getroffen zu haben, Sue. Ich wollte schon lange mit Ihnen
sprechen. Aber Bea hatte mir erzählt, Sie lebten in einer festen Beziehung. Da
habe ich mich nicht einmischen wollen. Aber jetzt ... Ich ... , ach verflixt!
Ich habe mich in Sie verliebt, Sue!“ Sue hatte da
gestanden wie gelähmt. Genau das gleiche hatte Mark ihr auch gesagt. Und dann
hatte er sie zutiefst verletzt.
Sue hatte die Szene noch genau im Gedächtnis. Während
sie ihren Gedanken nachhing, war Bea neben ihr und Mike aufgetaucht. Sie hatte
zwei Gläser in der Hand und wollte auf ihren Geburtstag anstoßen. „Na ihr führt
ja hier ein sehr interessantes Gespräch! Darf ich wissen, worum es geht?“ Sie hatte
sich lachend zu den anderen umgedreht, die ihre Gläser erhoben hatten, um ihr
alles Gute zum Geburtstag zu wünschen.
Kurze Zeit später hatte Sue eine günstige
Gelegenheit genutzt, die Feier unbemerkt zu verlassen. Sie hatte sich ein Taxi
genommen und nur noch den einen Wunsch gehabt, so schnell wie möglich nach
Hause zu kommen. Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht.
Das Wiedersehen mit Mike hatte sie sehr aufgewühlt. Und nun rief er sie an.
„Hallo Mike!“ Sue versucht ihrer Stimme
einen gleichgültigen Klang zu geben. „Es war
ein Fehler, dich gestern zu bedrängen, Sue“, hört sie ihn sagen. Er hat
„du“ gesagt, schießt es Sue durch den Kopf. „Nein, wir
passen nicht zusammen! Ich liebe Sie - dich
- nicht!“ „Sue,
glaube mir, ich liebe dich wirklich! Ich meine es ernst!“ Sue atmet
tief durch. Dann sagt sie mit leiser Stimme: „Versprich
mir nichts, was du nicht halten kannst, Mike! Ich könnte es nicht ertragen,
noch einmal so enttäuscht zu werden!“
„Sue,
vertraue mir! Auch wenn wir uns erst kurze Zeit näher kennen. Meine Gefühle für
dich sind wirklich echt. Ich liebe dich, Sue!“ Am Klang
seiner Stimme erkennt Sue, dass er es ernst meint.
Jetzt ist es um Sue vollkommen geschehen. Sie hat
nicht mehr die Kraft, ihre Empfindungen Mike gegenüber zu verleugnen. Schon
beim Klang seiner Stimme bekommt sie weiche Knie.
Hatte sie nicht tief innerlich doch so ein klitzekleines Hoffnungspflänzchen
gehegt und gepflegt und gehofft, dass Mike eines Tages mehr in ihr sehen würde,
als – na ja, die Freundin seiner kleinen Schwester Bea?
Mike reißt sie aus ihren Gedanken. „Sehen wir
uns heute Abend, Sue? Ich hole dich um sieben Uhr ab! Bitte, sag’ nicht nein!
Schließlich haben wir etwas zu feiern!“
Sue sieht aus dem Fenster und beobachtet die
ersten grünen Blätter, die an den Bäumen zu sprießen beginnen. Frühling –
die schönste Zeit im Jahr, sich zu verlieben. In Mike! So wie sie es bereits
getan hatte.
„Und was, wenn ich fragen darf?“ Sue lächelt
glücklich. „Zum
Beispiel, dass wir ins begegnet sind, du in mir den Mann deines Lebens gefunden
hast – und ich dich liebe!“
Sue schmunzelt. „Wie gut, dass du überhaupt
nicht eingebildet bist!“ „Willst du
damit sagen, dass du mich kein bisschen magst?“ Im
Gegenteil, denkt Sue, aber das werde ich dir frühestens nach dem Abendessen
gestehen.
Nach dem Gespräch kuschelt sich Sue in ihr
Badetuch und fährt sich mit der Hand durch ihre Haare. Liebe ich
Mike wirklich? Oder will ich nur Mark vergessen?
Sie beißt sich auf die Unterlippe. Andererseits hatte sie Mike nie ganz
vergessen können, seit sie ihm im zarten Alter von siebzehn Jahren zum ersten
Mal begegnet war. Was sollte sie nur machen? Sie würde Mike ja gerne glauben.
Noch vor wenigen Minuten war sie sich sicher gewesen, am Tonfall seiner Stimme
erkennen zu können, dass es ihm ernst sei. Doch nun – wo sie hier alleine
noch einmal über seine Worte nachdenkt – kommen ihr Zweifel. Zu schmerzhaft
war doch ihre Erfahrung mit Mark. Wie sehr hatte sie ihm vertraut und wie
schamlos hatte er ihr Zutrauen missbraucht.
Als Mike Sue abholt, schlägt er ihr ein
italienisches Restaurant vor. „Die Pasta
dort ist ein Gedicht!“ verkündet er mit strahlender Miene. „Ich lasse
mich überraschen! “antwortet Sue. Er öffnet
ihr die Wagentüre, doch Sue steigt nicht ein.
„Mike ich ... !“ Ihre Stimme wird immer
leiser. „Ich ... es geht nicht! Es hat keinen Zweck! Wir passen nicht
zusammen! Es war ein Fehler, mich heute Abend mit dir zu treffen. Lass es uns
einfach vergessen. Vergessen, dass wir uns kennen und...!“ „Langsam,
Sue! Der Reihe nach, bitte! So schnell komme ich nicht mit! Was hat das alles zu
bedeuten? Heute morgen warst du doch noch einverstanden und gestern
war ....!“
„Nichts war gestern, Mike! Und heute morgen hat
mich dein Anruf einfach überrollt. Glaube mir,
es hat wirklich keinen Sinn. Ich empfinde nichts für dich. Ich könnte dich
niemals lieben!“
Mike runzelt die Stirn. Kenne sich einer mit den
Frauen aus! Die sind ja schlimmer, als das Wetter im April!
„Herrgott, Sue. Was soll der Unsinn! Ich liebe
dich, nur dich! Wie oft muss ich es dir noch sagen? Vertraue mir doch
endlich!“
„Nein, Mike!“ Sue dreht sich abrupt um und
sieht ihn an. Mike blickt
ihr nachdenklich in die Augen. „Ich habe wohl alles falsch gemacht! Ich hatte
gemeint, du würdest genauso empfinden wie ich!“ Schweigend
wendet er sich von ihr ab, steigt in seinen Wagen und fährt ab, ohne sie noch
eines Blickes zu würdigen.
Sue laufen Tränen aus den Augen.
Bewegungslos steht sie am Straßenrand. „Was habe
ich gemacht? Mike, komm zurück!“ sagt sie mit tränenerstickter Stimme.
„Warum nur habe ich ihm nicht die Wahrheit gesagt?“
Mit
schleppenden Schritten geht sie die wenigen Meter zu ihrer Wohnung zurück. Schluchzend
wirft sie sich auf ihr Bett. Lange Zeit kann sie sich nicht beruhigen.
Dann fasst sie einen Entschluss und greift zum
Telefon.
© Helga Salfer
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