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Wehmut

Fast geräuschlos gleitet der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig ist leer, bis auf Mona.  Sie starrt dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner werden. Mit Tränen in den Augen verlässt sie den Bahnsteig und vergräbt die Hände tief in ihren Manteltaschen.

Eigentlich hatte sie es ja immer schon gewusst, dass es einmal so sein würde. Sie musste nun endlich die Kraft finden, loszulassen, was ihr in all den Jahren so lieb geworden war - ihre Tochter Klara!

Klara würde nun in einer fünfhundert Kilometer entfernten Stadt ihr Studium antreten und nur einmal im Monat nach Hause kommen. Vor diesem Tag hatte sich Mona stets gefürchtet, obwohl sie sich für Klara nichts Besseres vorstellen konnte. Sie war sich sicher, Klara würde sich sehr schnell einleben und neue Freunde finden. Ihr, ihr selbst,  fiel die Trennung schwer, auch wenn es egoistisch war.

Mona war es gewohnt, immer für Klara dazusein. Seit ihr Mann sie vor fünfzehn Jahren im Stich gelassen hatte, musste sie sich mit der damals dreijährigen Klara alleine durchs Leben schlagen. Das war nicht immer einfach gewesen. Aber dennoch war es ihr gelungen, ihrer Tochter eine glückliche Kindheit zu bieten. 

Als Klara größer wurde, entwickelte sich aus der Mutter-Tochter-Beziehung eine echte Freundschaft. Die Beiden verstanden sich prächtig. Mona zeigte eben viel Verständnis für das heranwachsende Mädchen.

Verstohlen wischt sie sich über die Augen. Warum bin ich denn traurig? Ich müsste doch eigentlich glücklich sein und mich mit Klara freuen! Mona versucht, ein wenig zu lächeln.

Mit staksigen Schritten durchquert sie die menschenleere Bahnhofshalle. Umständlich sucht sie in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Als sie ihn schließlich findet, zittern ihre Hände so sehr, dass sie kaum in der Lage ist, den Wagen aufzuschließen.

Mona, reiß dich endlich zusammen!  ermahnt  sie sich. Sie atmet tief durch und lässt sich in ihren Wagen sinken. Wie in Trance startet sie den Motor und fährt nach Hause.

In ihrer Wohnung überfällt sie wieder die Einsamkeit. Alles erinnert an Klara. In Gedanken versunken geht Mona in Klaras Zimmer und schaut sich darin um, so, als ob sie es noch nie gesehen hätte. Plötzlich kommt ihr alles fremd und leer vor.

Abrupt dreht sie sich um und geht in die Küche.

„Es ist zwar schon spät, aber ich brauche unbedingt eine Tasse Kaffee!“ sagt Mona laut. Sie ist froh, irgendeine Ablenkung gefunden zu haben.

„Nur nicht zu viel nachdenken“, murmelt sie und schaltet  wenig später im Wohnzimmer den Fernseher ein. Auf einem fremden Sender findet sie noch einen Spätfilm. Ohne zu begreifen, was da vor ihren Augen abläuft, sieht sie gebannt auf den Bildschirm. Für kurze Zeit bringen ihr der Film und die heiße Tasse Kaffee Zerstreuung.

Mona setzt sich auf die Couch, zieht die Beine an und wickelt sich in eine kuschelige Decke.

Die kleine Wohnung kommt ihr mit einem Mal riesig vor.

Was soll ich mit so einer großen Wohnung? Klara kommt doch nur einmal im Monat! Ich werde mir eine Zweizimmer- Wohnung suchen. Hier erinnert mich auch alles viel zu sehr an Klara.

Sie lässt ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Hier, hier in diesem Sessel hatte Klara immer gesessen. Und als sie noch ganz klein war, hatte sie die Schubladen vom Wohnzimmerschrank mit wahrer Wonne versucht auszuräumen.  Und die Spielsachen ...

Mona sieht das Bild wieder vor sich, wie sie beide im Kinderzimmer gehockt und gemeinsam mit Legosteinen gebaut hatten, wie sie Klara bei den ersten Schreib- und Leseversuchen in der Schule geholfen und ihr schließlich bei ihrer ersten  ‚Enttäuschung’ Ratschläge erteilt hatte.

Die alten Erinnerungen versetzen Mona einen schmerzlichen Stich.

Sehnsüchtig denkt sie an die zwar für sie sehr schweren, aber dennoch wunderschönen Jahre zurück. In dieser Zeit konnte sie nichts und niemand von Klara trennen.

Es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe und die Wehmut nachlässt. Aber - energisch schüttelt sie den Kopf - Klara ist eine erwachsene junge Frau geworden, die selbstbewusst ihren Weg gewählt hat.

Das muss ich akzeptieren!

 

© Helga Salfer