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Der
Schatten
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Ein
leichter Nieselregen setzt ein, als Ellen am Stadtpark aus dem Bus steigt. Fröstelnd
schlägt sie ihren Mantelkragen hoch und vergräbt ihre Hände tief in den
Taschen. Ich
hätte mich wärmer anziehen sollen, denkt sie. Immerhin haben wir schon Ende
Oktober. Aber gestern schien noch so schön und warm die Sonne. - Na
gut, dann laufe ich mich eben warm. Mit
forschem Schritt betritt sie die Grünanlage, um den Weg zu ihrer Wohnung abzukürzen. Im
Sommer geht es im Park um halb sechs noch recht lebhaft zu. Mütter sitzen auf
den Bänken, schauen ihren Kindern beim Spielen zu. Ältere Menschen verweilen,
um sich an den Springbrunnen des Teiches zu erfreuen. Doch
heute Abend wirkt die Anlage wie ausgestorben. Kein Vogel zwitschert in den Bäumen,
kein Spaziergänger begegnet ihr. „Es
ist ja bereits dunkel“, murmelt Ellen halblaut vor sich hin. „Und dann
regnet es auch noch. Würde ich hier herumlaufen, wenn ich es nicht brauchte?“ Stumm
schüttelt sie den Kopf. Sie
spürt, wie der Regen ihre Haare nässt. Ellen
schüttelt sich ein wenig, so, als
wolle sie die Regentropfen abwehren. Verstohlen wirft sie einen Blick auf ihre
Armbanduhr. In
zehn Minuten bin ich zu Hause. Dann werde ich mir ein warmes Bad einlassen, später
ein Glas Rotwein trinken und ein schönes Buch dabei lesen. Ihre
Gedanken schweifen ab zu ihrer behaglichen Dachzimmerwohnung, die sie sich im Sommer mit viel Liebe eingerichtet hatte. Ein
knackendes Geräusch lässt sie aufschrecken. Ellen zuckt zusammen. Ich
werde verfolgt, durchfährt es sie für einen Moment. Sie
spürt, wie sich ihre Nackenhaare sträuben. Doch
dann atmet sie tief durch. Ellen
du spinnst. Du hast auf einen kleinen Ast getreten. Hast es nicht bemerkt, warst
ja ganz in Gedanken. Mach dir nichts vor. Du bist hier alleine. Sie
erschrickt, als ihr bewusst wird, hier völlig alleine im Park zu sein. Was
wäre, wenn mir hier jemand auflauert? Niemand könnte mir zur Hilfe kommen.
Aber hier ist noch nie etwas geschehen, beruhigt sie sich selber. Doch
einmal ist immer das erste Mal. Wenn nun ich ... Energisch
wirft sie den Kopf in den Nacken und
beschleunigt ihren Gang. Auf
einmal bemerkt sie links hinter sich einen Schatten, der sie zu verfolgen
scheint. Ellen
stockt der Atem. Ihre Hände in den Manteltaschen verkrampfen sich. Sie spürt
ihre Gesichtszüge erstarren. Eine
Gänsehaut kriecht ihr den Rücken hoch. Stolpernd
setzt sie ihren Weg unbeirrt fort, mit der Angst im Nacken. Vorsichtig
schaut sie zur Seite und sieht den Schatten, der sie fortwährend verfolgt. Von
Panik ergriffen will Ellen schreien, doch die Stimme versagt ihr. Nur ein krächzender
Ton entringt sich ihrer Kehle. Laufen
– Weglaufen – so schnell es geht – sind ihre einzigen Gedanken, die sie
noch fassen kann. Ellen
hat das Gefühl, auf einmal Blei in den Beinen zu haben. Es
scheint so, als wollten sie ihr nun gerade, wo sie sie so dringend brauchte, den
Dienst versagen. Ein
loser Stein mitten auf dem Weg bringt sie ins Stolpern. Ihr rechter Fuß rutscht
weg. Nur
mit Mühe kann Ellen verhindern, der Länge nach auf den Bauch zu fallen. Sie
kann sich im letzten Moment mit den Händen abfangen. In
gebückter Haltung sieht sie seitlich hinter sich den Schatten, der ebenfalls im
Schritt zu verharren scheint. Ellen
glaubt, das Herz bleibe ihr stehen. Ihr Atem geht stoßweise, Schweißperlen
treten ihr, trotz der Abendkühle, auf die Stirn. Mühsam
rappelt sie sich auf und erwartet im nächsten Augenblick eine feste Hand, die
sich ihr auf die Schulter legt. Doch
nichts dergleichen geschieht. Ellen
öffnet den Mund zum Schrei. Es kommt immer noch kein Ton. Ihr Herz schlägt so
laut, beinahe glaubt sie, ihr Verfolger könne es hören. Unbeholfen
vor Angst rappelt sie sich wieder auf und wundert sich darüber, noch nicht überfallen
worden zu sein. Lautlos
bleibt ihr der Schatten dicht auf den Fersen. Ellen
hat nun nicht mehr den Mut, sich nach ihm umzudrehen. Denkt sie doch, ihm dabei
gleich voll ins Angesicht sehen zu müssen. Ich
würde vor Schreck tot umfallen, durchfährt es sie. Vielleicht
will er mich auch nur erschrecken und mir gar nichts antun. Sie
spürt, wie ihre Knie zittern bei dieser Vorstellung. Mehr
schleppend als gehend erreicht sie den Ausgang des Parks. „Guten
Abend, Ellen! Wie siehst du denn aus?“ „Hiiiiiilfeeee!“
krächzt Ellen. „Was
ist denn passiert?“ Susan starrt ihre Freundin entsetzt an. „Ellen, was hast
du denn?“ Mit
weit aufgerissenen Augen schaut Ellen Susan an und scheint sie gar nicht richtig
wahrzunehmen. Susan
geht auf Ellen zu und legt den Arm um ihre Schultern. „Ich
wollte dich besuchen und habe hier auf dich gewartet. Ich weiß doch, dass du
immer die Abkürzung durch den Park nimmst. Sollte eine Überraschung werden.
Aber sag mal, was ist denn eigentlich mit dir los? Hast du ein Gespenst
gesehen?“ Susan
sieht Ellen mit einem breiten Grinsen an. „Da,
da hinter mir. Da ist jemand, der mich schon die ganze Zeit verfolgt.“ „Ich
sehe niemanden, Ellen, und habe auch keinen weglaufen sehen.“ „Es
war aber jemand da, ich habe doch seinen Schatten gesehen. Er blieb sogar
stehen, als ich über einen Stein ausgerutscht bin. Und er ging weiter, als auch
ich weiter ging. Im gleichen Tempo. Er hielt immer denselben Abstand zu mir. Ich
bin ganz nass vor Angst.“ Susan
nimmt Ellen in ihre Arme und merkt erst jetzt Ellens Zittern am ganzen Körper. „Nun“,
beginnt sie sanft und streichelt der Freundin über die nassen Haare. „ Ich
kann dich beruhigen, den Schatten, den du bemerkt hast – Ellen – es ist dein
eigener. Durch den schwachen Lichtschein, der den Weg hier bescheint, wirft
deine Gestalt diesen Schatten. Klar also, dass er alles macht, was du machst,
geht ja nicht anders“, lacht Susan. Mit
gerunzelter Stirn hört Ellen Susan zu. Im Arm der besten Freundin traut sie
sich, einen Blick hinter sich zu
werfen. Ungläubig
sieht sie auf den dunklen Fleck hinter ihrem Rücken. „Und
du meinst wirklich, da war niemand? Auf dem gesamten Weg?“ „Nein..
Sei ganz beruhigt, deine Fantasie ist mit dir durchgegangen und hat dir einen
Streich gespielt, glaube es mir“. Ellen
schlägt die Hände vors Gesicht. „Du
kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe. Als du mich dann noch
ansprachst, dachte ich, es .....“ „Wäre
die Stimme des SCHATTENS.“ Ellen
presst die Lippen zusammen und nickt. Erschöpft
von dem Angstzustand und gleichzeitig erleichtert darüber, nur einem
Trugschluss erlegen zu sein, erreicht sie
wenige Minuten später mit Susan ihre Wohnung. © Helga Salfer |