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Marie' s Plan
 

Die kleine Marie steht am Küchenfenster und blickt sehnsüchtig auf die
Straße, wo ihre Freundinnen und Freunde spielen. Tränen kullern ihr über die Wangen.

"Du brauchst nicht zu weinen, Marie!"
Die Mutter ist dabei, das Mittagessen vorzubereiten. "Du weißt nur zu gut, warum du nicht nach draußen darfst!"

Ohne sich umzudrehen, nickt Marie stumm.  -  Klar, weiß sie das.

"Aber die anderen dürfen schon alle wieder raus", beginnt sie zögernd. "Nur ich nicht!"
"Marie! Strafe muss sein, damit du lernst, dass man nicht aus einer Laune
heraus einfach etwas zerstören darf. Was habt ihr euch eigentlich dabei
gedacht, einfach Steine in die Fensterscheiben bei Cramer zu werfen?"

"Nichts! Wir wollten doch nur gucken, wer am besten zielen konnte. Und
es machte jedes Mal so schön 'klick klack'."

"Aber die Scheibe ist beschädigt. Sogar ein kleines Loch ist drin. Stell dir nur vor, es wäre durch eure Steine jemand verletzt worden! Gott sei Dank ist nichts passiert!"

"Ja, eben, deshalb kann ich doch wieder zu den anderen spielen gehen, ja? Bitte, Mami!"
"Nein, Marie!" Die Mutter schaut sie mit ernster Miene an. "Ich muss mich doch nicht dauernd wiederholen!"

Marie schnauft leise und kneift die Augen zusammen. Sie stützt die Ellenbogen auf die Fensterbank auf und legt ihr Gesicht in die Hände.

"Was kann ich nur machen, damit ich hier raus komme", denkt sie immer wieder.

Dann huscht plötzlich ein flüchtiges Lächeln über ihr kleines Gesichtchen und ihre Augen glänzen. Sie dreht sich zu ihrer Mutter um.
"Ich gehe in mein Zimmer, Mami!"
"Ja, gut! Mach das, Marie!"

Als Marie ihr Zimmer betritt, wirft sie sich auf ihr Bett. Auf dem Rücken liegend starrt sie die Decke an und denkt über die Idee nach, die ihr soeben in der Küche gekommen ist.

Nach dem Mittagessen hilft sie ihrer Mutter den Tisch abzuräumen.
"Na, das machst du ja wirklich fein, Marie", lobt die Mutter.
"Hm!" antwortet die Kleine leise, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
Sie weiß nicht so recht, wie sie der Mutter ihren fein zurecht gelegten Plan präsentieren soll.

Mami?" Marie sieht ihre Mutter mit großen Augen an. "Hoffentlich werfen Lisa, Vanessa, Jana, Björn und Lars nicht noch weiter Steine in Cramers Fenster!"
"Das will ich doch wohl schwer hoffen. Schließlich haben sie ja bestimmt Schimpfe genug bekommen und wohl auch eingesehen, dass sie so etwas nicht mehr machen dürfen! Genau wie du es eingesehen hast, nicht wahr?"

"Ja - ja, Mami. Aber sie sind alle wieder auf der Straße und niemand passt auf sie auf. Vielleicht werfen sie jetzt einfach weiter Steine in die Fensterscheiben anderer Leute."
"Nein, ganz bestimmt nicht, Kleines! Ich hoffe, die Eltern deiner Spielkameraden haben ihnen ins Gewissen geredet".
"Sie versuchen es bestimmt wieder. Ich muss es wissen. Ich kenne sie alle so gut".

Marie weiß genau: Was sie da sagt stimmt nicht. Aber ihre Freunde sind ja nicht dabei, um sich zu verteidigen. Und sie - Marie - will doch unbedingt wieder zu ihnen raus. Was soll sie denn machen? Da hilft nur diese miese Verleumdung, wenn überhaupt.

Die Mutter sieht Marie forschend an.
"Das sagst du bloß so, oder? So etwas Dummes werden sie nicht machen".

Marie zieht die Augenbrauen zusammen, um der Mutter zu zeigen, wie scharf sie nachdenkt.
"Ich bin mir da nicht so sicher. Wenn keiner dabei ist, der sie davon abhält, machen sie es wahrscheinlich doch!"

"Oh, je! Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, Marie!"
"Ist aber so, Mami! Ich kenne sie besser als du!"
"Und du meinst, du könntest verhindern, dass sie wieder Schaden anrichten?"

Marie beißt sich verlegen auf die Unterlippe.
Sie sieht den zweifelnden Blick der Mutter auf sich gerichtet.

"Sie hat meinen Plan durchschaut". Marie ist enttäuscht. "Es klappt nicht. Ich hätte es schlauer anfangen müssen. Aber wie?"

"Hallo, kleines Fräulein! Ich habe dir eine Frage gestellt! Wo bist du denn mit deinen Gedanken?"

Unsicher blickt Marie ihre Mutter an und zieht etwas unbeholfen ihren Pullover in die Länge.
"Kann sein! Aber ich darf ja nicht raus. Hast du gesagt!"
Marie zuckt mit den Schultern.
"Vielleicht ist das hier ein Sonderfall?" wirft die Mutter ein.

Marie' s Herz klopft vor Aufregung. "Gibt die Mutter nach?"
"Aber", fährt diese fort, "eigentlich ist das nicht unser Problem. Andererseits - wenn du sie tatsächlich beeinflussen kannst ..."
"Ja, ja, Mami! Kann ich! Darf ich es versuchen? Bitte, bitte!"

Die Mutter stößt einen tiefen Seufzer aus.
"Ich will ausnahmsweise mal nicht so sein". Lächelnd schaut sie Marie an.

Marie schmiegt sich an sie. Ganz wohl ist ihr aber dennoch nicht.
Sie weiß nur zu gut, wie wenig sie gerade Lars und Björn beeinflussen kann. Gar nichts würde sie ausrichten, wenn die beiden Jungen wieder etwas Verbotenes ausheckten. Und zudem hatte sie ihre Mutter noch belogen.

"Was ist, du kleine Märchenerzählerin? Hast du plötzlich deine Meinung geändert?" Mit einem Ruck setzt die Mutter Marie vor sich auf den Tisch und streicht ihre eine Haarsträhne aus der Stirn.
"Ich denke, du hast deine Lektion gut gelernt, und ich kann mich nun guten Gewissens auf meine große Tochter verlassen".

Marie presst die Lippen zusammen.
"Ganz bestimmt, Mami, das verspreche ich dir", flüstert Marie.

Die Mutter streichelt ihr sanft die Wange und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn.

Wenig später findet Marie ihre Freunde auf dem nahe gelegenen Sportplatz, wo es keine Fensterscheiben gibt, die zertrümmert werden können.

 

© Helga Salfer