Diese Geschichte jetzt auch als download pdf

Phobie
 

 

Bernd Sandner ist Leiter der Finanzabteilung einer großen Bank und verlässt das Gebäude meist als Letzter.

Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Was? Schon 18.30 Uhr! Du lieber Himmel! Ich muss mich beeilen! In einer Stunde treffe ich mich mit Geschäftspartnern beim Chinesen in der Innenstadt! –

Vorher muss ich aber noch schnell nach Hause, duschen, umziehen .... Na ich werde es schon irgendwie schaffen!“

Mit einem zufriedenen Lächeln greift er nach seinem Mantel und verlässt das Büro in der zweiten Etage.

Er schließt sein Zimmer ab und überlegt, ob er heute, wegen der knappen Zeit, wagen soll, den Lift zu benutzen.

Der Aufzug ist in ein paar Sekunden unten im Erdgeschoss, geht es ihm durch den Kopf.

Bereits bei dem Gedanken an die Enge im Lift, spürt Bernd ein leichtes Unbehagen. Doch dann strafft er die Schultern und atmet tief durch.

„Ich werde es überleben!“ sagt er laut zu sich selbst und geht mit großen Schritten auf den Fahrstuhl zu, öffnet die Türe, tritt ein und drückt auf E.

Mit einem leisen Summen schließt sich die Lifttüre hinter ihm. Misstrauisch sieht Bernd sich in seinem „Gefängnis“,  so bezeichnet er den Lift immer, um. Kaum merklich setzt sich der Aufzug in Richtung Erdgeschoss in Bewegung.  Bernds Blick ist starr auf die Türe gerichtet, die sich ja gleich wieder für ihn im Parterre öffnen wird.

Er lehnt sich leicht verkrampft an die Wand und versucht, an das Dienstgespräch beim Chinesen zu denken, um sich abzulenken.

Plötzlich gibt es einen Ruck. Der Aufzug steht zwar im Erdgeschoss, aber die Türe bleibt geschlossen.

Bernd erstarrt.

„Ich muss hier sofort raus!“ sagt er laut und stemmt sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Türe. Nichts! Mit beiden Händen versucht er, sie gewaltsam zu öffnen. Umsonst.

„Ich glaube, ich ersticke! Hilft mir denn niemand?! Aber wer soll mir helfen, es ist ja niemand mehr da. Ich Idiot! Da benutze ich einmal den Lift!  E i n m a l  !!!!!!!  Ich weiß schon , warum ich diesen ‚Schacht’ verfluche!“

Er hämmert mit seinen Fäusten verzweifelt gegen die Wände.

„Sogar ein Fußtritt gegen die verflixte Türe bringt  sie nicht dazu, sich zu öffnen,“ brummt er vor sich hin.

Erschöpft lehnt Bernd den Kopf gegen die Wand und lockert mit der linken Hand seinen Krawattenknoten. Schweißperlen treten ihm auf die Stirn.

„Hätte ich doch bloß die Treppe genommen. Ich sage es ja immer wieder, der Lift ist eine „Teufelsfalle“, einmal drin und du bist verloren!“

Bernd krallt seine Hände in seinen Mantel.

Mein Handy – ich muss telefonieren, denkt er.

Er greift in seine Hosentasche, rechts, links! Nichts!

Bernd hat das Gefühl, als drücke ihm jemand den Hals zu. Mit zitternden Fingern tastet er seine Anzugtaschen ab.

„Komisch“, murmelt er. „Ich könnte schwören, dass ich es vor zehn Minuten eingesteckt habe. Menschenskind, es muss da sein!“

Bernd spürt, wie sich sein Magen verkrampft. Ihm wird übel. Heiße und kalte Schauer laufen ihm den Rücken herunter.

„Oh je, mein Kreislauf! Mir wird schwindelig! Luft! Frische Luft! Ich bekomme keine Luft mehr!“

Stöhnend stützt er sich mit beiden Händen an der gegenüberliegenden Wand ab.

„Verflixt, wo ist das blöde Handy nur? Es kann doch nicht sein, dass ich es auf meinem Schreibtisch liegen gelassen habe?“

Sein Blick fällt auf den Alarmknopf. Mit zitternden Fingern drückt er den Knopf.

„Funktioniert nicht, habe ich mir gleich gedacht! Wenn Schreien wenigstens etwas nutzen würde. Das ist das Los des Letzten, den beißen immer die Hunde. Ich hänge hier vermutlich die ganze Nacht fest.“

Allein die Vorstellung daran, bis zum nächsten Morgen in diesem ‚Käfig’ sitzen zu müssen, verursacht ihm Schwindel. Bernd hat das Gefühl, nicht mehr fest auf seinen Beinen stehen zu können. Er schließt für einen Moment die Augen.

Seine Hände tasten sich an der Wand entlang und berühren etwas Hartes.

Bernd fühlt sich einer Ohnmacht nahe. Seine rechte Hand drückt sich fest auf diesen harten Gegenstand und siehe da ...

Leise summend öffnet sich die Lifttüre. Ein frischer Luftzug bläst Bernd ins Gesicht. Ungläubig starrt er die geöffnete Türe an und wankt schließlich mit unsicheren Schritten ins Freie.

Vor dem Aufzug bleibt er kurz stehen und versucht, tief und ruhig durchzuatmen, um wieder zu Kräften zu kommen.

Schweißgebadet verlässt er die Bank und saugt draußen gierig die frische kühle Herbstluft auf, um seinen Lungen den vermissten Sauerstoff zukommen zu lassen.

„Nie wieder, nie wieder werde ich einen Aufzug betreten! Und wenn ich zehn Stockwerke die Treppe herunter laufen müsste!“

Eine junge Frau, die an ihm vorbei geht, mustert ihn kritisch, denn Bernd führt laut Selbstgespräche. Doch das ist ihm in diesem Moment völlig egal.

Für ihn ist nur eines wichtig und zwar  -   dass er noch  l e b t !

 

 

© Helga Salfer