Diese Geschichte jetzt auch als
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Stunde
der Wahrheit
Gutgelaunt summt Marion eine
Melodie aus dem Radio mit. Sie gießt sich eine Tasse Kaffee ein und greift zur
Tageszeitung. Dieses morgendliche
Zeremoniell genießt sie jeden Samstagmorgen. Doch
heute fehlt ihr die Ruhe. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um die Lesung, die
heute um 11.30 Uhr in der großen Buchhandlung am Kastanienplatz stattfindet. In
großen Zügen trinkt sie den heißen Kaffee und blättert unkonzentriert eine
Seite nach der anderen um, ohne überhaupt einen Artikel gelesen zu haben. Sie
kann es noch immer nicht begreifen, was Ina ihr da gestern am Telefon so ganz
nebenbei erzählte. Abrupt
setzt Marion ihre Tasse mitten auf die Zeitung und starrt aus dem Fenster in den
gerade erblühten Fliederbaum, der seine weißen duftenden Blüten der frühen
Morgensonne entgegenstreckt. Warum
irritiert mich diese Nachricht eigentlich so? Marion schüttelt stumm den Kopf.
So viele Jahre sind inzwischen vergangen. Warum vergesse ich es nicht einfach?
Ja, das wäre wohl das Allerbeste – schließlich kann ich bei diesem
herrlichen Wetter so viel Schönes unternehmen. Ich werde mein neues Fahrrad
einweihen und eine wunderschöne Radtour durch den Forstwald machen. Sie will gerade die Zeitung
zusammenlegen und den Tisch abräumen, als das Telefon klingelt. Wo
habe ich das Ding nur wieder hingelegt? Sie rennt ins Wohnzimmer, dreht sich um
ihre eigene Achse und entdeckt das Telefon auf dem Sessel neben dem Fernseher. Ich
sollte mir mehr Ordnung angewöhnen, das ersparte mir so manches Mal dieses
elende Suchen. Mit
der rechten Hand greift sie nach dem Gerät, während sie sich mit dem linken
Unterarm eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. „Hallo
Marion, ich bin’ s, Laura. Weißt du schon das Neueste? Du musst unbedingt um
11.30 Uhr zum Kastanienplatz kommen. Ich meine natürlich in den Buchladen. Du
glaubst es nicht, wer da heute eine Lesung hält.“ Marion
streicht mit dem linken Zeigefinger die Konturen der Sessellehne nach und
schmunzelt. „Ina
hat mir gestern schon alles erzählt. Ich habe aber heute gar keine Zeit. Geht
ihr beide hin? Dann wünsche ich euch gute Unterhaltung.“ „Wie
- du hast keine Zeit – das
lässt du dir doch wohl nicht entgehen, oder? Da liest ja nicht irgendwer,
sondern ...“ „Ich
weiß, aber ich kann meine Verabredung nicht absagen.“ „Du
kannst nicht? Du musst es sogar tun!“ „Nein,
Laura. Mich interessiert diese Lesung überhaupt nicht.“ „Gut,
Marion, die Lesung vielleicht nicht, aber die Person
die liest, die kannst du doch nicht einfach so achtlos beiseite legen. Es
gab Zeiten, da hättest du wer weiß was ....“ „Moment,
Laura! Seit damals ist eine Menge geschehen. Heute kann ich sehr wohl ohne
Emotionen meine Entscheidung treffen.“ Wie
gut, dass Laura mich nicht beobachten kann. Ich hoffe sie merkt meine Nervosität
nicht, denkt Marion. „Ich
bin gespannt, wie John heute aussieht“, hört sie Laura’ s Stimme am anderen
Ende der Leitung. „Dass er als erfolgreicher Anwalt überhaupt noch die Zeit
findet, Bücher zu schreiben. Und dann über die Tierwelt in Afrika. Wo ist der
schon überall hin gekommen! Beneidenswert, nicht?“ Marion
muss sich eingestehen, dass sie noch vor wenigen Monaten eines seiner Bücher in
den Händen gehalten und ein wenig darin gestöbert hatte. Auf der Rückseite
hatte eine kleine Biographie mit einem Foto von ihm gestanden. Wie wild hatte
ihr Herz geschlagen, als sie sein Gesicht betrachtet hatte. Alte Erinnerungen
waren in ihr geweckt worden –
Geschehnisse, die sie einst tief verletzt hatten. Schnell
hatte sie das Buch wieder zurück an seinen Platz gestellt und die Buchhandlung
fluchtartig verlassen. In ihrer Lieblingsboutique hatte sie sich durch den Kauf
eines schicken Kleides ablenken wollen. Doch jedes Mal, wenn sie nun dieses
Kleid aus dem Schrank nahm, fiel es ihr schlagartig wieder ein, was sie zu
diesem Kauf veranlasst hatte. Marion
atmet tief durch und schließt für einen Moment die Augen. Dann
hört sie sich - wie aus der Ferne
– sagen: „Ich
weiß, wie er aussieht, blendend!“ „Was?
Du weißt? Aber woher? Hast du uns etwas verschwiegen? Habt ihr euch denn
wiedergesehen? Das ist ja wunderbar, Marion. Glückwunsch! Wenn Ina das hört.
Oder weiß sie es längst?“ „Laura!
Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Nein!“ „Ja,
aber woher weißt du dann, wie er aussieht?“ „Ich
habe vor einem halben Jahr eines seiner Bücher hier im Buchladen entdeckt. Sein
Bild war hinten auf der Rückseite abgebildet.“ „Was?
Das ist ja fantastisch! Ein Grund mehr für dich, gleich hin zu gehen, um ihn
persönlich zu begrüßen.“ „Ich
sagte bereits, ich habe keine Zeit heute, Laura. Ich kann Tina nicht absagen.
Die Kleine hat ein neues Fahrrad bekommen und möchte heute mit mir eine kleine
Einweihungsfahrt durch den Forstwald machen,“ lügt Marion. „Na
das lässt sich doch auf morgen verschieben. Aber unbedingt! Am Sonntag soll das
Wetter wieder so schön sein wie heute, sogar noch etwas wärmer. Also! Sag
Tinchen, dir wäre etwas ganz Dringendes, Unaufschiebbares dazwischen
gekommen.“ Marion
streicht sich mit der linken Hand über die Stirn. Kleine Schweißperlen haben
sich dort gebildet. Das Gespräch wühlt sie mehr auf, als sie sich eingestehen
will. Sie fühlt, wie ihr langsam die Argumente ausgehen. Die Fahrt mit Tina war
ja sowieso erfunden. Und den Ausflug mit ihrem neuen Fahrrad konnte sie sicher
jederzeit nachholen. Nur
jetzt nicht weich werden, geht es ihr durch den Kopf. „Also, was ist? Ich bin um 11.00
Uhr bei dir“, verkündet Laura energisch. „Keine Widerrede, meine Liebe.“ „Nein,
Laura“, entfährt es Marion schärfer, als sie es beabsichtigt hat. „Oh
je, Marion. Ich will dir natürlich
nicht herein reden. Okay, okay. Du musst es ja schließlich selber wissen, was
du tust. Dann komme ich heute Abend kurz bei dir vorbei und erzähle, ja?“ „Tu,
was du nicht lassen kannst, Laura. Also dann bis später. Ich kann uns ja eine
Kleinigkeit kochen.“ „Gute
Idee, dann bis nachher.“ „Meine
Güte;“ Marion lässt sich laut stöhnend in den weichen Sessel sinken.
Stanislaus, ihr schwarzer Kater, springt ihr sogleich auf den Schoß. „Du hast
es gut, Kater, kennst die menschlichen Sorgen und Probleme nicht.“ Versonnen
streichelt sie ihm über das glänzende Fell. „Habe
ich mich nun richtig entschieden? Bausche ich die ganze Angelegenheit nicht unnötig
auf? Warum
kann ich die ganze Sache nicht einfach vergessen? Warum belüge ich Laura? Mache
ich mir da etwa selbst etwas vor?“ Marion
schlägt die Hände vor ihr Gesicht. Sie hatte geglaubt, die Geschichte mit John
endlich verarbeitet und abgeschlossen zu haben. Aber nun war plötzlich alles
wieder verändert. Das Telefongespräch mit Laura hatte sie mehr aufgewühlt,
als sie zugeben wollte. Nicht nur alte Erinnerungen, sondern auch alte Fehler,
die sie, Marion, gemacht hatte, tauchten da in ihrem Gedächtnis auf. Ihr wurde
schlagartig wieder bewusst, welches Unrecht sie ihm damals zugefügt hatte, als
sie behauptet hatte, er hätte nie Zeit für sie, würde nur seinen Interessen
und Neigungen nachgehen. Den Ausdruck in seinem Gesicht hatte sie bis heute
nicht vergessen können, als sie spontan ihre Sachen gepackt und die gemeinsame
Wohnung verlassen hatte. Schon
wenige Tage später hatte sie diesen Schritt bereut und gehofft, er würde sie
bitten, zu ihm zurück zu kommen. Inzwischen
waren fünf Jahre vergangen. Marion hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Und
ihr Stolz hatte es ihr ebenso verboten, Kontakt zu ihm aufzunehmen. „Vielleicht
lebt er heute mit einer anderen Frau zusammen, hat Familie“, murmelt Marion
leise vor sich hin. „Es interessiert mich ja eigentlich gar nicht.“ Dennoch
behagt ihr dieser Gedanke überhaupt nicht. „Immerhin
könnte es ja auch sein, dass er mir längst verziehen hat. Wir haben schließlich
beide Fehler gemacht – damals. Möglicherweise lebt er auch noch allein. Wer
solche Reisen gemacht hat, hat doch für eine Beziehung gar keine Zeit. Es wäre
ja durchaus möglich, dass ....“ Entschlossen
springt Marion aus dem Sessel und eilt ins Badezimmer. In Windeseile duscht sie
und wäscht sich die Haare. „Ich
kann es noch gerade schaffen bis 11.30 Uhr am Kastanienplatz zu sein“, denkt
sie. „Aber was soll ich anziehen?“ Sie
entscheidet sich für einen hellen Hosenanzug aus Leinen, den sie vor vier
Wochen in einem Schaufenster gesehen, und dem sie nicht hatte widerstehen können.
Sorgfältig fönt und frisiert sie ihr schulterlanges dunkles Haar und
betrachtet sich hinterher zufrieden im Spiegel. „Ich
bin verrückt, total verrückt;“ entfährt es ihr laut. „Was will ich mir
beweisen? Will ich das wirklich durchziehen?“ Marion
betrachtet ihr zweifelndes Gesicht im Spiegel und die steile Falte, die sich
zwischen ihre Augenbrauen schiebt. „Nein,
ich muss mir nichts, überhaupt nichts, beweisen. Ich gehe doch nur zu einer
ganz normalen Lesung, bei der der Vortragende rein zufällig ein früherer
Bekannter von mir ist – mehr nicht! Ich werde ihn hinterher begrüßen, ebenso
wie Laura und Ina es auch machen werden. Laura - sie wird sich wundern, dass ich
nun doch komme, wo ich vorhin am Telefon so kategorisch abgelehnt hatte,
mitzukommen. Aber ich kann ja schließlich meine Meinung ändern, wann und wie
ich es möchte. Wer weiß, wofür es gut ist ...“ Verschwörerisch
lächelt sie sich im Spiegel zu. Marion
betritt als eine der letzten Besucher den Lesungsraum, in dem sich ca. 20
Personen eingefunden haben. Sie
findet gerade noch einen freien Stuhl in einer Ecke nahe der Türe. Als sie
ihren Blick durch den Raum schweifen lässt, bemerkt sie in der Mitte der ersten
Reihe ihre Freundinnen Ina und Laura. Die beiden sind in ein Gespräch vertieft
und haben so Marion nicht herein kommen sehen. Als
Marion noch gerade überlegt, ob sie kurz zu den beiden hingehen und sie begrüßen
soll, betritt John den Raum. Marion
sinkt zurück auf ihren Stuhl. Ihr Blick ruht auf dem Mann, um den ihre
Gedanken sich in den letzten Stunden nur noch gedreht haben. John
trägt eine einfache Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt. Souverän verneigt er
sich kurz vor seinen Gästen, spricht einen kleinen Begrüßungstext und nimmt
anschließend an dem für ihn bereit gestellten Tisch Platz. Flüchtig
überfliegt sein Blick den kleinen Kreis, dann öffnet er langsam eines seiner Bücher.
Im Raum ist es mucksmäuschenstill. Jeder lauscht seinen Worten mit großem
Interesse und nimmt Anteil an seinen aufregenden Erlebnissen in Afrika. Als er
endet, bekommt er von seinem begeisterten Publikum großen Beifall gespendet. Die
ersten bestürmen ihn bereits, stellen Fragen zu seinen Erfahrungen, die er in
der Wildnis gemacht hat, bitten um ein Autogramm, wollen gleich eines seiner Bücher
kaufen. Auch
Ina und Laura sieht Marion nun zu ihm hin gehen. Sie beobachtet, wie er sie
herzlich begrüßt und mit ihnen lacht. Er scheint sie wiedererkannt zu haben. Marion
fühlt ein unbehagliches Gefühl in der Magengegend. „Ich
muss hier weg“, schießt es ihr durch den Kopf, „bevor sie mich sehen.“ Ruckartig
steht sie auf und stößt dabei den vor ihr stehenden Stuhl mit lautem Gepolter
um. „So
ein Mist,“ entfährt es Marion. Sie
will sich gerade umdrehen und gehen, als sie von Ina entdeckt wird. Blitzschnell
ist die Freundin bei ihr, umarmt
sie und zieht sie mit sich an John’ s Tisch. „Hallo
Marion“, ruft Laura begeistert aus. „Super, dass du dich nun
doch entschlossen hast zu kommen. John, schau her, wer hier vor dir
steht.“ „Du
siehst doch, er gibt gerade noch Autogramme“, murmelt Marion mit zittriger
Stimme. Sie spürt, wie ihr die Beine weich werden. „Geh
doch um den Tisch herum und tippe ihm von hinten auf die Schulter. Dann kann er
ja nicht anders, als dir seine
Aufmerksamkeit zu schenken“, tuschelt Ina. „Nun
trau dich schon, so fremd ist er dir doch nun auch wieder nicht. Schließlich
kanntet ihr euch sehr gut und habt euch nahe gestanden.“ Die
letzten Worte hat John deutlich verstanden. Erstaunt hebt er den Kopf und blickt
Marion voll ins Gesicht. Seine Züge zeigen keinerlei Reaktion. „John,
das ist Marion“, fährt Laura dazwischen. Erkennst du sie etwa nicht wieder?
So lange ist es ...“ „Laura“,
zischt Ina sie an, „halt dich da heraus, du siehst doch, dass deine Hilfe
nicht gewünscht wird.“ „Hallo
John“, haucht Marion. „Wie schön, dich hier wiederzusehen.“ Sie
reicht ihm ihre rechte Hand zum Gruß. Ihr
Blick bleibt wie gebannt an ihm haften. John schaut sie immer noch stumm an. Dann
greift er zu seinem nächsten Buch, um es zu signieren. Ohne
sie noch einmal anzusehen sagt er leise, aber unmissverständlich: „Ich
kenne keine Marion. Sie müssen mich verwechseln. Tut mir Leid.
Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Sie sehen ja, ich bin beschäftigt.“
Marion
schlägt das Herz bis zum Hals. Sie hat das Gefühl, keine Luft mehr zu
bekommen. Tränen der Wut, der Verzweiflung, der Enttäuschung verblenden ihren
Blick. Ohne nach rechts und links zu schauen, rennt sie aus dem Buchladen hinaus
auf die Straße, lehnt sich an eine Wand und weint hemmungslos. ©
Helga Salfer
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