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'Unglücklicher'  Vorfall mit unerwartetem Wiedersehen ...

 

 

 

Chris steigt  in ihren schwarzen VW-Golf und wirft einen ärgerlichen Blick in den Rückspiegel.

Mensch, der blöde BMW, denkt sie.  Musste der wirklich so dicht hinter mir parken?! Das ist doch unmöglich! Der lässt mir ja kaum Platz zum raus fahren! Gut, dass wenigstens der Jeep vor mir einen kleinen Abstand eingehalten hat!

Sie legt den Sicherheitsgurt an, startet den Motor und schaltet das Autoradio ein.

Zum Glück habe ich mich damals für die Servolenkung entschieden. In solchen Fällen erweist sie sich wieder einmal als unentbehrlich.

Aber dieses Mal nutzt sie Chris nicht viel.

Leise flucht sie vor sich hin. Verflixt! So ein Mist!

Sie kurbelt das Seitenfenster herunter, um besser abschätzen zu können, wie weit     sie ihren Wagen überhaupt noch zurücksetzen kann, ohne dabei den BMW zu berühren.

Es könnte ja auch zufällig mal einer der beiden Fahrzeughalter kommen und wegfahren, geht es ihr durch den Kopf. Aber natürlich – wenn Frau oder Mann Hilfe braucht – ist ja bekanntlich keiner da! 

Chris streicht sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Wut auf den Fahrer des BMWs steigt in ihr auf.

Dieser blöde Kerl! Ich kenne ihn nicht. Aber ich bin überzeugt, wenn ich ihn kennen lernen würde, wäre er mir auf Anhieb unsympathisch.

Während sie ihren Golf vorsichtig Millimeter für Millimeter zurücksetzt, vernimmt sie ein unverkennbares Geräusch:

Die Stoßstange ihres Golfs hat ‚Kontakt’ zu der Stoßstange des BMWs  aufgenommen!

Chris zuckt erschrocken zusammen.

Habe ich es mir doch gedacht. Das konnte ja nicht gut gehen!

Seufzend lehnt sie sich in ihren Sitz zurück und schließt für einen kurzen Moment  die Augen.

Toll habe ich das hingekriegt. Und? Wer hat’s gesehen?

Chris reißt die Augen wieder auf und blickt sich überall um.

Weit und breit ist  kein Mensch zu sehen. Dann gibt es wohl keinen Zeugen für den Vorfall. Ich könnte einfach wegfahren, überlegt sie für einen Augenblick.

Doch dann schüttelt sie den Kopf.

Nein! Das ist feige und -  Fahrerflucht! Wird außerdem bestraft, wenn ich mich einfach auf und davon mache! Immerhin wäre es ja auch möglich, dass einer der Anwohner mich vom Fenster aus beobachtet und  bereits mein Autokennzeichen  notiert hat. Ich sehe mir jetzt den Schaden zunächst einmal an.

Die Stoßstange hat glücklicherweise nur ein paar Kratzer abbekommen, stellt sie erleichtert fest. Am besten warte ich hier auf den Besitzer. Vielleicht  kommt er ja gleich. Dann können wir die Sache sofort an Ort und Stelle klären.

Chris wartet eine halbe Stunde voller Ungeduld. Dann schreibt sie dem Fahrer  einen Zettel. Sie bittet ihn, sich wegen des Vorfalles mit ihr in Verbindung zu setzen und notiert ihm ihren Namen, die Adresse und die Telefonnummer.

 Sie klemmt das Stück Papier hinter den linken Scheibenwischer.

Als sie gerade in ihr Auto steigen will, hört sie hinter sich eine freundliche Männerstimme.

„Hallo? Ich stehe hier doch gar nicht im Parkverbot! Und meine Uhr ist auch nicht abgelaufen! Warum schreiben Sie mir dann ...“.

 Der gutaussehende, dunkelhaarige Mann überfliegt die wenigen Zeilen und stellt mit Befriedigung fest, dass es gar kein Protokoll ist. Der Text interessiert ihn jetzt nicht mehr. Aber der Name -  Christiane Hansen! Christiane Hansen?

 Er runzelt überrascht die Stirn. Ein freudiges Lächeln huscht über sein leicht gebräuntes Gesicht.

„Etwa die Christiane Hansen, die ich noch von der Uni her kenne? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Gibt es so einen Zufall?“

 „Moment, Moment!“ ruft er laut. „Chris, warte! Mein Gott, Chris!“

Verwundert dreht Chris sich um. Sie traut ihren Ohren nicht. Irgendwie kommt ihr diese Stimme sehr bekannt vor.

 Ist es etwa ... Nein, unmöglich! Das kann nicht Lars sein. Der wohnt doch irgendwo in Süddeutschland. Was soll der denn hier?

„Chris! Menschenskind! Lass dich anschauen! Toll siehst du aus.“

„Lars? Du? Hier?“ Chris starrt ihn ungläubig an.

„Na, das nenn ich eine Überraschung, Chris!“

Lars geht auf Chris zu und umarmt sie stürmisch.

„Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Das muss gefeiert werden! Unbedingt! Es sind jetzt fast zehn Jahre her! Oder?“

Chris ist etwas irritiert. Vor ihr steht ein sehr elegant gekleideter Mann, der zudem noch blendend aussieht. Und dieser Mann ist nun auch noch ausgerechnet der Besitzer dieses verteufelten BMWs, dessen Stoßstange sie beschädigt hat.

 Ein wenig unsicher lächelt sie Lars an.

„Ja, ich glaube es sind genau zehn Jahre her. Vielleicht können wir ja irgendwo einen Kaffee zusammen trinken. In der Nähe ist ein nettes Café. Ich muss dir dann auch gleich etwas gestehen?“

„Du musst mir etwas gestehen? War denn damals etwas, was ich wissen müsste?“

Lars sieht sie erstaunt von der Seite her an.

„Komm! Gehen wir in das Café, dort können wir in Ruhe reden, ja?“

 Als er behutsam seinen Arm um ihre Schultern legt, zuckt Chris unwillkürlich zusammen.

 Seine Berührung löst immer noch angenehme Erinnerungen in ihr aus. Schließlich hatten sie zwei Jahre lang eine sehr innige Beziehung, die durch ungünstige Umstände auseinanderbrach. Wegen irgendeiner Belanglosigkeit hatte es damals einen Riesenstreit zwischen ihnen gegeben. Chris hatte sich in ihrer Enttäuschung an Lars rächen wollen und sich einem anderen Studienfreund zugewandt.

In dem Café finden sie einen kleinen Tisch unmittelbar am Fenster. Lars bestellt zwei Cappuccino. Chris beobachtet ihn heimlich aus den Augenwinkeln.

Er gefällt mir noch besser als früher, stellt sie fest. Ob er wohl verheiratet ist? Einen Ring trägt er nicht. Aber das besagt ja heute nichts mehr. Viele Ehemänner laufen ohne Ring herum, um begehrenswert zu bleiben.

„So, das hätten wir!“ Lars lächelt und wendet sich wieder Chris zu.

„Jetzt erzähl mal, was machst du, wie lebst du?“

„Ich arbeite als Innenarchitektin und wohne in einem wunderschönen Penthouse im Grünen, nicht weit von hier.“

„Und bist du – ich meine – lebst du ...?“

„Du meinst, ob ich verheiratet bin? Nein! Ich hatte acht Jahre lang eine sehr gute Zeit mit Steven. Wir haben siebeneinhalb Jahre zusammen gelebt. Aber er arbeitet sehr viel im Ausland, wodurch wir uns oft mehrere Wochen nicht gesehen haben. Man lebt sich da etwas auseinander, verstehst du?“

„Hm, kann ich mir gut vorstellen. So was geht in den seltensten Fällen gut. Tut mir leid für dich!“

„Ach, ist schon gut. Die Arbeit  hat mir in der ersten Zeit geholfen, zu vergessen. Sie lässt mir wenig Zeit zum Nachdenken! - Und du? Wie ist es dir so ergangen?“

„Ich bin in der Werbebranche tätig!

„Und was machst du heute hier in deiner Heimatstadt?“

„Ich habe geschäftlich in der Nähe zu tun und will dabei kurz für ein zwei Tage meinen Eltern einen Besuch abstatten. Ist ja gerade günstig – heute ist Freitag. – Ach – Wochenende – weißt du was? Ich lade dich morgen Abend zum Essen ein. Was hältst du davon?“

Chris strahlt ihn an.

„Ja gern, aber wartet denn niemand auf dich?“

„Nein – ich bin noch zu haben! Wenn du das meinst!  Was ist nun, sagst du ja?“

„Ja, ich freue mich. Aber da ist noch etwas Unangenehmes, was ich noch mit dir besprechen möchte – muss, bevor ...“

„Du hast das vorhin schon angedeutet, Chris, als wir noch auf der Straße standen. Was ist denn eigentlich los?“

Chris senkt den Blick.

„Vielleicht überlegst du es dir noch einmal mit dem gemeinsamen Abendessen, wenn ich dir sage, um was es geht!“

Lars beugt sich über den Tisch zu Chris herüber.

„Du machst es aber wirklich spannend. So schlimm ist es bestimmt nicht. Sag schon!“

„Dein Auto – ich meine deinen schönen BMW ...“

„Mein  A  u t o ? Was ist mit meinem Auto? Gefällt es dir nicht?“

„Doch, doch! Ich habe dir die Stoßstange verkratzt, als ich versuchte, aus der engen Parklücke zu fahren. Du erinnerst dich an den Zettel hinter dem Scheibenwischer?“

„Was?“ Lars lacht laut auf. „Du hast was?  Ach so! Der Zettel! Ich weiß gar nicht, was drauf stand. Ich habe nur deinen Namen gelesen! Du hast mir die Stoßstange verkratzt? Na so was!“

„Ja, aber ich bin versichert. Ich bezahle den Schaden, Lars!“

„Aber Chris! Mach doch nicht so ein Theater um die paar Schrammen auf der Stoßstange. Im Gegenteil! Ich bin ja froh, dass es passiert ist!“

Chris starrt ihn ungläubig an.

„Froh hast du gesagt? Das verstehe ich jetzt aber nicht! Es sind zwar nur kleine Kratzer, aber sie sind gut zu sehen.“

„Wäre das nicht geschehen, würden wir uns vermutlich nicht begegnet sein. Und das wäre zu schade gewesen. Also mach dir keine Gedanken, die Sache ist bereits vergessen. Allerdings stelle ich eine Bedingung!“

„Und die wäre?“

„Dass du diesen dummen Vorfall sofort aus deinem Gedächtnis streichst! Einverstanden?“

Chris willigt glücklich ein.
 

Lächelnd denkt sie daran zurück, was sie vor einer guten Stunde noch über den BMW Fahrer gedacht hatte:

Ich will ihn gar nicht kennen lernen und wenn, wäre er mir auf Anhieb unsympathisch!

Und dann steht da plötzlich Lars vor ihr, den sie so richtig nie vergessen konnte.

Wenn das nicht ein ganz besonderes Glück im Unglück war?!

 

  © Helga Salfer