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Was keiner erwartete ...  
 

    Gutgelaunt machen sich Marcel und Thomas auf den Weg zum Kino. Sie wollen sich die Premiere ansehen, die groß in der Zeitung angekündigt worden ist.

Als sie dort ankommen, müssen sich die Beiden in einer langen Warteschlange anstellen.

    „Eigentlich sollte doch längst geöffnet sein!“ Thomas sieht seinen Freund Stirn runzelnd an.

„Ja,  hast recht!“ Marcel wirft einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. „Tatsächlich! Schon fünf nach halb acht. Wieso ist die Kasse denn noch nicht besetzt?!“

„Das ist eine gute Frage“, mischt sich ein älterer Herr ein, der vor Marcel steht. „Kündigen hier den Film groß an und dann  -  ist niemand da, der uns herein lässt. Was denken die sich eigentlich?“

Marcel zuckt mit den Schultern.

„Wird schon gleich jemand kommen!“

„Na wollen wir das beste hoffen!“

    Immer mehr Leute strömen herbei und drängen sich in dichten Reihen vor dem Eingang des Kinos. Große Ungeduld macht sich unter ihnen breit. Einige schimpfen laut.

    Frau Braun sitzt währenddessen im Bus, der sie zu ihrem Arbeitsplatz an der Kinokasse bringen soll. Sie kann vor Nervosität kaum die Beine still halten.  Andauernd schaut sie auf ihre Uhr.

    Hätte ich nicht meine Lesebrille stundenlang suchen müssen, säße ich jetzt längst an der Kinokasse und würde die Eintrittskarten verkaufen. Aber ich musste sie finden, weil ich ohne sie weder Buchstaben noch Zahlen lesen kann. So etwas ist mir doch in der ganzen Zeit noch nie passiert. Ich war immer pünktlich.

    Vor lauter Aufregung schlägt ihr Herz heftig. Zu viele Gedanken gehen ihr durch den Kopf: Wie viele Leute mögen wohl jetzt schon vor der Kasse stehen? Sie werden sicher schon ungeduldig und verärgert sein. Vielleicht sind einige sogar auch schon zornig. Ach Gott, würde der Bus doch nicht so langsam fahren.

    Krampfhaft umklammern ihre Hände den Henkel ihrer Handtasche.

Nun steigt auch noch einer in den Bus ein mit einem großen Geldschein. Der Fahrer hat zu wenig Wechselgeld und ruft über Lautsprecher die Fahrgäste um Mithilfe.

    Du meine Güte! Auch das noch. Schon fünf Minuten nach halb acht! Was mache ich nur? Die Menschenmenge vor dem Kino...  Sie wollen doch den Film sehen, der gleich anfängt. Ich muss auf dem schnellsten Weg zum Kino.

Kurz entschlossen steht sie auf und stellt sich neben den Busfahrer. Ohne auf das verständnislose Kopfschütteln der Fahrgäste zu achten, spricht sie ihn einfach an.

    „Könnten Sie nicht ausnahmsweise ein bisschen schneller fahren? Ich habe es nämlich furchtbar eilig! Ich muss unbedingt zum Kino! Die Eintrittskarten verkaufen! Verstehen Sie?“ Sie sieht ihn mit durchdringendem Blick an.

    „Schneller fahren? Sie sind aber lustig!  Hier? Mitten in der Stadt? Wenn Sie es so eilig haben, hätten Sie ja einen früheren Bus nehmen können! Und nun setzen Sie sich bitte wieder hin. Das Sprechen mit dem Fahrer während der Fahrt ist übrigens verboten. Können Sie nicht den fettgedruckten Hinweis lesen?!“

    Empört zieht Frau Braun ihre Augenbrauen hoch.

„Hören Sie mal, wie reden Sie eigentlich mit mir!“ Entrüstet setzt  sie sich wieder auf ihren Platz.

    Die nächste Haltestelle ist endlich ihr Ziel. Eilig steigt sie aus.  Es ist bereits zwanzig vor acht. Schon von weitem sieht sie eine große Menschenmenge vor dem Gebäude stehen.

    Oh je, oh je! Hoffentlich lynchen die mich nicht!

Je näher sie dem Kino kommt, desto mehr Einzelheiten kann sie erkennen. Da stehen innerhalb der Reihe einige Besucher laut schimpfend zusammen. Andere sind bereits sehr wütend. Und einen erblickt sie sogar mit geballter  Faust.

Ein kalter Schauer läuft Frau Braun den Rücken herunter. Am liebsten möchte sie jetzt fliehen. Doch sie ist pflichtbewusst und sagt sich, da will ich durch!

Nun hat sie das Ende der Schlange erreicht. Ohne nach rechts und links zu sehen, versucht sie, entlang der Wartenden nach vorne zu kommen.

    Aber sogleich wird sie durch laute Protestrufe daran gehindert.

„ Stellen Sie sich gefälligst hinten an! Verdammt noch mal!  Wir stehen hier schon ewige Zeiten! Und du Alte glaubst, den ersten Platz gebucht zu haben!“

    Frau Braun nimmt sich vor, nicht zu reagieren. Doch damit schürt sie die spannungsgeladene Stimmung nur noch mehr. Wütend wird sie von einem jungen Mann angeschrieen.

„Du hast hier keine Sonderrechte! Verzieh dich augenblicklich nach hinten!“

Ein zweiter Mann packt sie grob am Arm und schiebt sie zurück.

    Mit einem Ruck versucht Frau Braun sich aus dem festen Griff des Mannes zu befreien.

„Ich kann ja Ihren Zorn verstehen. Aber finden Sie nicht, dass Ihr Verhalten ein wenig unverschämt ist?“

Ihre Stimme klingt dabei fest und bestimmt.

    Für einen Augenblick herrscht daraufhin Ruhe in der Menge. Das gibt ihr den Mut, den Weg nach vorne fortzusetzen. Doch genau das bringt die Leute vollends in Rage.

    Ein Mann mit einem Stock tritt aus der Reihe und baut sich vor ihr auf. Er scheint zu allem entschlossen zu sein.

Frau Braun spürt, wie ihre Hände eiskalt werden. Was soll sie jetzt tun?

Dann fasst sie einen Entschluss!

    Mit einem verachtenden Blick wendet sie sich von dem sie bedrohenden Mann ab und ruft der aufgewühlten Menge zu:

 

„Gut! Wie ihr wollt! Dann sucht mal jemanden, der euch jetzt die Eintrittskarten verkauft!“

 

© Helga Salfer